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Aus der Tiefe des Raumes. Katrin Wichmann als Marianne in Thalheimers Horváth-Abend.
© Bresadola/drama-berlin.de

Neuinszenierungen am Deutschen Theater Berlin: Ausgerechnet Pralinen

Gleich zwei Premieren hat das Deutsches Theater Berlin zum Osterwochenende herausgebracht: Michael Thalheimer „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und Andreas Kriegenburgs Versuch, fünf Einakter zu einem sozialkritischen Sittenbild zu formen.

So widerwärtig dumpf und zugleich abgrundtief verloren wie der Fleischermeister Oskar stand lange keine Figur an der Rampe des Deutschen Theaters. Diesem „blühenden Menschenkind“, wie Oskars Schwiegervater in spe einmal gedankenlos daherschwadroniert, spannt die Anzughose über der Leibesmitte wie einem hausmannskostaffinen Endfünfziger. Nicht nur im Hüftbereich, auch in den Armen fehlt dem Jungmetzger die Geschmeidigkeit: Wieder und wieder verfängt er sich beim Versuch, für seine Braut Marianne eine Pralinenschachtel aus der Jacketttasche zu fingern, im Anzugstoff. Als er die armselige Pappbox nach gefühlten 50 Anläufen endlich doch noch zutage gefördert hat, beginnt er an den verrutschten Geschenkschleifen zu nesteln. Ergebnislos, versteht sich: Die Süßwaren-Deko widersetzt sich Oskars wurstfingrigen Optimierungsversuchen konsequent.

Schwer zu sagen, wessen Tragödie einem in diesem Moment tiefer in die Knochen fährt: Die des grobmotorischen Fleischermeisters oder die seiner Braut Marianne, die nie zuvor klarer gesehen hat, dass hellgelbe Bonbonnieren so grundfalsch für sie sind wie dieser erbärmliche Gatten-Wicht. Fest steht lediglich, dass man das, was Katrin Wichmann und Peter Moltzen hier als grandioses Unglückspaar auf die fast leere DT-Bühne zaubern, lange nicht gesehen hat – zumal an diesem Haus. Und, nächste gute Nachricht: Es hört nach dieser Szene nicht auf! Über zwei pausenlose Stunden schält Michael Thalheimer mit einem erstklassigen Ensemble aus Ödon von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ eine Miniatur-Tragödie nach der anderen heraus.

Dass diese Einzeldramen ihren Anlauf gern in der Beinahe-Komödie nehmen, wirkt am Ende nur zusätzlich tragikverschärfend: Horváths Figuren – ein Dutzend einzelkämpferischer Kleinbürger – treten bei Thalheimer zumeist aus der Tiefe des Raumes an die Rampe. Lässig lösen sie sich hinten von einem langen Tisch, dem einzigen Bühnenmöbel des Abends, und wirken unterwegs zunächst wie stilisierte, tausendfach gesehene Theater- Pappkameraden, die man sich als versierter Parkettsitzer seit Jahren erfolgreich vom Leibe hält. Da nähert sich der restattraktive Hallodri-Loser Alfred, in den sich Marianne verliebt, im möchtegernbreitbeinigen Schlenkergang, während die Mittfünfziger-Trafikantin Valerie als krampfhafte Jugend- und Lebensfrische-Simulantin nach vorn hüpft.

Dort angekommen, lösen sich die Figurenpanzer allerdings mit jeder beiläufigen Bösartigkeit, die das Horváthsche Personal gleichermaßen abendfüllend versendet wie empfängt, ein Stück weiter auf: Der freiliegende Abgrund, in den man am Ende einer solchen Dialogprozedur blickt, überträgt sich körperlich.

Thalheimers Konsequenz, das „Volksstück“ unter fast vollständigem Effektverzicht im leeren Raum spielen zu lassen (das Programmheft verzeichnet tatsächlich keinen Bühnenbildner), lässt den Darstellern keinerlei Fluchtpunkte. Und die brauchen sie auch nicht: Wie sie das Spiel zwischen Stilisierung und Individualtragödie beherrschen, aus der abstrakten Figurenskizze ins Konkrete switchen und aus der Ironie in den Abgrund, ist schlichtweg großartig. Almut Zilchers Valerie zirkelt grandios jenen Frauentypus auf die Bühne, der in jeder Situation eine Spur zu laut, zu ordinär und am Ende irgendwie auch zu weichherzig ist – und dessen schrill-peinliche Performance einfach nur eine Komplett-Enttäuschung vom Leben überspielt. Der punktgenau schlaffe Alfred von Andreas Döhler, der Marianne am Verlobungstag verführt, kurz darauf schwängert, zwecks Gelderwerbs an einen Nackttanz-Schuppen vermittelt und schließlich verlässt, agiert seine brutale Würstchenhaftigkeit derart gekonnt aus, dass er sich sein grenzenloses Eigenmitleid tatsächlich selbst zu glauben scheint.

Der gebellte Kasernenton von Michael Gerbers Zauberkönig, Mariannes Vater, wird am Ende fast mitleiderregend stimmbrüchig. Und wie sich Katrin Wichmanns Marianne als Strip-Bunny im billigen Goldregen den BH auszieht, während sie schief und dünn das Lied vom „Mädel aus der Wachau“ singt, ist in seiner brutalen Genauigkeit und Trostlosigkeit eigentlich kaum noch zu ertragen.

Dass einige Schauspieler vor allem bei Kurzauftritten dickere Ironieschichten auftragen als nötig: geschenkt. Thalheimer ist hier ein Wurf gelungen: Die Johann-Strauß-Klänge von der „schönen blauen Donau“, mit denen der Abend so schockgefrostet endet, wie er begonnen hatte – bis auf die nicht unwesentliche Tatsache, dass die Horváthschen Einzelkämpfer final hinter Pappmasken verschwunden sind – wird man schwerer wieder los, als einem lieb sein kann.

Am Vorabend dieser Thalheimerschen Tiefenbohrung hatte Andreas Kriegenburg nebenan in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zweieinhalb Stunden lang Kulturschickeria-Oberflächen bearbeitet. Eheleute mit Ledermasken und Glitzershorts, Angestellte in farbenfrohen Reifröcken oder gattensubventionsempfangende Hausfrauen in Latexfummeln (Kostüme: Andrea Schraad) versprachen dort einen „Trip in die Hölle der bürgerlichen Freiheit“. Kriegenburg hat fünf Einakter des französischen Dramatikers Georges Courteline, in denen etwa Arbeitnehmer für ihr Nichterscheinen Gehaltserhöhungen verlangen oder Beziehungsneurotiker ihren gegenseitigen Hass mit Lust an Dritten ausagieren, unter dem Titel „Sklaven“ zusammengefasst und sich im Programmheft dahingehend erklärt, dass die gegenwärtigen Kulturnarzissten, die er durch Courtelines Folie hindurch schimmern sieht, in ihrer „Ich-Inszenierung“ alternativlos, weil „Sklaven ihrer Freiheit“ geworden seien.

De facto kaspern sich dann sieben Kostüm-Individualisten variantenarm durch einen zusehends zähen Abend, indem sie regelmäßig aus gefakten Maschinengewehren aufeinander schießen und Ego- Diskurse parodieren. Wo Thalheimer Abgründe freilegt, erschöpft sich Kriegenburg in der Ausstellung jener Oberflächen, die er attackieren will.

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