Wiener Festwochen: Aus sicherer Entfernung
Achim Freyer beschert den Wiener Festwochen einen stark stilisierten „Fidelio“, Marc Minkowski dirigiert die Musiciens du Louvre.
Beethoven, man weiß es, hatte seine liebe Mühe mit der menschlichen Stimme. Und, nicht überraschend, auch mit seiner einzigen Oper „Fidelio“. Zwei Titel (ursprünglich: „Leonore“), drei Versionen in neun Jahren, vier Ouvertüren, von denen eine nie aufgeführt und eine andere – die dritte – so beliebt ist, dass sie seit Gustav Mahler regelmäßig ins Stück integriert wird: Es ist eine vertrackte Entstehungsgeschichte. Bis heute wirft sie ihren Schatten auf so manche „Fidelio“-Produktion. Oder was soll man sonst denken, wenn die Wiener Festwochen zwei Monate vor der Premiere von „Fidelio“ im Theater an der Wien – dem Ort der Uraufführung von 1805 – die Zusammenarbeit mit Regisseur Dmitri Tcherniakov aufkündigen, weil der die „erforderlichen Vorarbeiten“ nicht erbracht habe? Und stattdessen den wackeren, inzwischen 82-ährigen Berliner Achim Freyer engagieren?
Bei Minkowski säuft die Musik nicht ab im Wohlklang
Geblieben sind das Orchester Les Musicien du Louvre und ihr Chef Marc Minkowski. Der holt sofort weit aus, die ersten kräftigen Akkorde von Schlagwerk und Streichern branden an die geschichtsgesättigten Wände des Hauses. Eine holzige, sehr trockene Akustik, Minkowski und seine Musiker klingen extrem rustikal, harzig, aber in der Unbedingtheit ihres Spiels liegt auch etwas Ehrliches, Sympathisches. Diese Musik säuft nicht ab in delirierendem Wohlklang, sie fällt einen an wie ein wildes Tier. Nur wackeln so manche Einsätze, da ist die Akustik erbarmungslos, es hätten gern ein paar Proben mehr sein dürfen.
Und die Szene? Wer sich Freyer holt, bekommt Freyer. Stangen, Gerüste, ein Käfig – Florestans Gefängnis. In dem die Sängerinnern und Sänger stehen oder vielmehr: sich um die eigene Achse drehen wie die Glockenspielfiguren am Münchner Rathaus. Gesichter sind nicht auszumachen, da sie in typisch Freyer’scher Manier hinter Masken verborgen sind. Die genau kalkulierte Bewegungsästhetik des Regisseurs, der auch sein eigener Bühnenbildner ist, funktioniert manchmal hervorragend, etwa in „Salome“ an der Deutschen Oper Berlin, manchmal erfriert sie aber auch in blutleerem Abstraktionstheater wie in „Eugen Onegin“ hier an der Staatsoper. In Wien wirkt es ein wenig, als hätte er hastig alle seine Mittel zusammengekehrt, um in der verbleibenden Zeit eine einigermaßen ansehnliche Produktion auf die Beine zu stellen.
Christiane Libor singt eine expressive Leonore
Achim Freyer greift auf frühere Entwürfe zurück. Schon 1976 in Frankfurt sah er Leonore als „weiße Gestalt im Dunkel des Daseins“, wieder lässt er sie weißgeschminkt auftreten. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum sie hervorsticht. Christiane Libor, gebürtige Berlinerin mit Ausbildung an der Musikschule Hanns Eisler, singt als Fidelio (bekanntlich eine Frau in Männerkleidern) mit feingeschliffenem, expressivem Sopran, der wahrlich ein Licht in der Dunkelheit darstellt. Gatte Florestan, der sich im gesamten ersten Akt als blutiger Wurm in Fesseln am Boden wälzen muss und dabei an den Propheten Jochanaan aus Strauss’ „Salome“ denken lässt, kann bei Michael König dagegen nur eine schwächere Wirkung entfalten. Innig und gerundet gelingt ihm das mörderische Crescendo in der Auftrittsarie „Gott, welch Dunkel hier!“, dann aber bleibt sein Tenor stumpf und in sich gekehrt. Vielleicht auch verständlich bei solch entsetzlicher Kerkerhaft. Das Duett von Florestan und Leonore, „O namenlose Freude“, gerät den beiden ziemlich hektisch – was aber die Glaubwürdigkeit steigert.
Franz Hawlata ist ein brummbäriger Rocco, dem das Gold am Wanst baumelt, Jewgeni Nikitin - der wegen eines hakenkreuzähnlichen Tattoos 2012 die Rolle als „Fliegender Holländer“ in Bayreuth zurückgab – wird als Don Pizarro vom Orchester regelmäßig überspült und ist kaum zu verstehen. Georg Nigl ist als Minister Don Fernando ein ziemlich eitler Fatzke, der gottähnlich über dem Geschehen thront, die Arme weit ausstreckt und sich auch sonst ziemlich gut findet, eine Harald-Glööckler-hafte Gestalt.
Freyer stellt die Ungereimtheiten des "Fidelio" aus
Ein Mensch wird aus politischen Gründen gefangen genommen, gefoltert, fast ermordet: Das heute in der westlichen Welt zu zeigen, birgt kein Risiko. Aber überall in Europa verhärten sich die Fronten, auch im beschaulichen Nachbarland Österreich nimmt Ausgrenzung zu. 49,7 Prozent der Österreicher – also jeder Zweite, der einem hier auf der Straße begegnet – haben bei der Bundespräsidentenwahl für die FPÖ gestimmt. Und erst zwei Tage vor der „Fidelio“-Premiere kam es zu Krawallen auf der Ringstraße zwischen rechtsnationalen Identitären und Gegendemonstranten. Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Markt der Ideologie“ im Museum Moderne Kunst Stiftung Ludwig mitten im Museumsquartier wurde kurzfristig abgesagt, als sich herausstellte, dass einer der Teilnehmer die Wiener Gruppe der Identitären Bewegung leitet.
Was hingegen im Theater an der Wien auf die Bühne kommt, ist Politik aus sicherer Entfernung. Warum wird „Fidelio“ überhaupt gerne gehört? Wenn wir ehrlich sind: wegen der Musik. Wegen der Ouvertüre, des ersten Quartetts, des Gefangenenchors. Das Stück als Stück zu retten, kommt Achim Freyer hingegen nicht in den Sinn. Lieber stellt er dessen Absurditäten und Ungereimtheiten aus, präsentiert genüsslich den teilweise entsetzlich misslungenen Text der Rezitative (drei Librettisten haben daran mitgeschrieben). Schafft einen Adventskalender, ein Spinnennetz, in dem sich so allerlei verfängt, ein Wimmelbild aus schweinsköpfigen Dämonen nach Art von Hieronymus Bosch. Lässt „Freiheit“ und „Brüderlichkeit“ auf die Leinwand projizieren. Als Worthülsen. Als Ästhetisierung ohne weitere Interpretation.
So sieht man viel und sieht doch – nichts. Jede emotionale Nähe zwischen den Figuren wird ohnehin schon dadurch unmöglich gemacht, dass alle Beteiligten auf verschiedenen Ebenen dieser Weihnachtspyramide ihre Runden drehen. Da muss dann ein Pantomime einspringen und Florestan in den Arm nehmen, Leonore kann gerade nicht, sie befindet sich zwei Etagen höher. Ob das etwas Befreiendes oder zutiefst Deprimierendes hat, mag jeder für sich entscheiden. Aber dann wird auch noch die Dritte Leonoren-Ouvertüre weggelassen. Als ob wir nicht deswegen gekommen wären.
Udo Badelt