Graphic Novel: Aus der Vogelperspektive
Tiefgründig und von morbider Schönheit: Anders Nilsens Graphic Novel „Große Fragen“ bietet mit vermeintlich einfachen Mitteln eine faszinierend vielschichtige Erzählung.
Unerklärliches passiert im Revier einer Gruppe Finken: Ein Flugzeug stürzt ab, eine Bombe explodiert, Menschen benehmen sich rätselhaft, die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Die Graphic Novel „Große Fragen“ des US-Comicautors Anders Nielsen entführt den Leser in eine Fabelwelt. Wie einst bei George Orwells „Farm der Tiere“ werden hier die zentralen Fragen des Lebens von Tierfiguren verhandelt. Handlungsort ist eine mit Ausnahme zweier Menschen nur von Vögeln, Hunden, Eichhörnchen und einer Schlange bewohnte Region, die an die karge Kulisse für ein Beckett-Drama erinnert.
Der Absturz zu Beginn der Erzählung wirft vor allem für eine Gruppe von Finken, die von seinen verheerenden Folgen am unmittelbarsten betroffen sind, Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Existenz eines Gottes auf. Es geht um die Bedeutung von Freundschaften, die Liebe und den Tod, die Verarbeitung von Traumata und den ewigen Kreislauf von Fressen und Gefressen werden.
Grausames, Tiefgründiges und absurd Komisches liegen dabei eng beieinander. So wenn eine Gruppe von Raben gnadenlos zynische Witze reißt, während die Tiere an einem menschlichen Opfer des Flugzeugabsturzes herumpicken – und aus der Ferne die verunsicherten Finken zuschauen und über die Bedeutung der für sie unerklärlichen Ereignisse sinnieren.
Nach und nach fügen sich die anfangs unverbunden scheinenden Szenen wie in einem philosophischen Puzzle zusammen. Was der Realität entspringt und was Fantasie, ist dabei nicht immer eindeutig abgegrenzt. So sind die Tagträume des narkoleptischen Unglückspiloten von bedrohlichem Federvieh bevölkert – aber manche seiner wachen Momente ebenfalls. Und nur weil ein Vogel als Folge des Absturzes sein Leben ließ, heißt das noch lange nicht, dass er nicht als Gerippe weiter unter der Lebenden weilen und erhellende Erkenntnisse beisteuern kann.
Wie der 1974 geborene Nielsen diese Zutaten in seinem im Laufe von 15 Jahren zur epischen 600-Seiten-Erzählung gewachsenen Werk mit scheinbar leichter Hand verwebt, das ist spektakulär. Dabei wirken die Zeichnungen des in Chicago lebenden Autors gerade zu Beginn eher schlicht, was sicher auch an seinen anfänglichen handwerklichen Beschränkungen liegt. Passend zur wachsenden Komplexität nimmt jedoch auch seine zeichnerischen Souveränität zu, was das komplexe Werk des in Deutschland bislang nahezu unbekannten Autors zu einer umso überraschenderen und beglückenderen Lektüre macht.
Anders Nilsen: „Große Fragen“. Aus dem Amerikanischen von Tim Jung, Lettering Björn Liebchen. Atrium, 600 Seiten, 39,95 Euro.
Anders Nilsens Blog findet sich hier, seine persönliche Website findet sich hier. Einen ersten Ausblick auf sein neues Buch, das im Herbst bei Drawn & Quarterly erscheint, gibt es hier.
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