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Rolling Stones
© Kinowelt

Rock-Doku: Aus dem Leben der Echsen

Wie lange noch? Wie lange wollt ihr das machen? Wie viele Jahre kann ein Rockmusiker auf die Bühne gehen, ohne lächerlich, deplatziert, abgefuckt zu wirken? Martin Scorsese kommt mit seinem Musikfilm "Shine a Light" den Rolling Stones gefährlich nahe.

Die Frage wird in Martin Scorseses „Shine a Light“ permanent gestellt. Es ist der running gag der Dokumentation aus dem New Yorker Beacon Theatre, einem wunderschönen und mit 2800 Plätzen für ein Konzert der Rolling Stones sehr intimen Art-Deco-Tempel. Scorsese, godfather der Rock-Dokumentation, mixt kurze – überaus komische – Interviewschnipsel aus mehreren Jahrzehnten in die Live-Aufnahmen vom Oktober 2006; Momente, in denen man sich zurücklehnt und besinnt, wie alt diese Typen wirklich sind, die da mit Hits und Mythen, Riffs und Lockstoffen um sich werfen, als sei Altweiberfastnacht auf dem Olymp, dem Berg der Götter.

Ein Musikfilm? Das natürlich auch – ein kluges, zartes Werk, das einen tief hineinzieht in das geplante und am Ende doch der Spontaneität des Augenblicks ausgelieferte Phänomen, das sich Rock ’n’ Roll nennt. Mit der ewig dräuenden Frage – how long? – ist „Shine a Light“ im Grunde aber ein Naturfilm. Ein Film über Menschen. Über die Unsterblichkeit im vergänglichsten Gewerbe der Welt, der Rockmusik. Aus dem Leben der Echsen. So nah war man noch nie dran, so viele Falten und Furchen sah man in einem Rockfilm noch nie. Was auch an dem Aufgebot von über einem Dutzend berühmter Kameraleute liegt. Die Kameras rocken und rollen mit.

Anfangs, in den Sechzigern, war es eine bange Frage, geprägt von Unverständnis und Diskriminierung. Die Journalisten und Seelsorger, die sie stellten, schienen dem 19. Jahrhundert entsprungen. Wie lange also wollen diese drogensüchtigen Irren unsere Jugend verderben und Lärm und Anarchie verbreiten! Später schlägt das in schiere Bewunderung um. Die Rolling Stones sind immer noch da, haben sich nicht aufgelöst, sind nicht den Weg so vieler Rockstars gegangen, die jung ins Gras bissen. Da hat „Shine a Light“ etwas Romantisierendes: Der früh verstorbene Ur-Stein Brian Jones taucht hier ebenso wenig auf wie private Details aus dem Umkreis von Mick Jagger, Keith Richards, Ron Wood und Charlie Watts.

Keith Richards, das Chamäleon. Mal sieht er aus wie ein Pirat, mal wie eine Indianerin, dann wieder wie ein züngelndes Panzertier. Er sagt, dass er an nichts anderes mehr denkt, wenn er auf der Bühne steht. Und genau darum geht es Scorsese. Um diese Blase, diese Wolke, dieses parallele Universum, wenn der erste Song gezündet wird.

Stones-Dokus gibt es genug. Als Jean-Luc Godard 1968 in London „Sympathy for the Devil“ drehte, war es der rührende Versuch, Jagger & Co. politisch einzuspannen. „Gimme Shelter“ von 1970 hat die sinistren Ereignisse des Altamont-Konzerts für die Nachwelt festgehalten; damals wurde ein Fan vor den Augen der Musiker erstochen. Per aspera ad astra. „Shine a Light“, der Titel sagt es, verbreitet Helligkeit, Euphorie. Ist pure Energie und Pose. Die Rolling Stones, verstärkt von Backgroundsängern und einer Brass Section, spielen zwanzig Nummern aus ihrem 45 Jahre umspannenden Repertoire – eingerahmt von „Jumpin’ Jack Flash“ und „Satisfaction“.

Auch Martin Scorsese, mit 65 nur ein Jahr älter als Jagger, muss nicht mehr erklären, dass der Rock ’n’ Roll eine gesellschaftliche Konstante ist. Schließlich hat er den gesamten Clinton-Clan vor dem Konzert im Beacon Theatre auf der Bühne. Bill darf, weil er Geburtstag hat, die Band ansagen, Hillary kommt mit Mutter und Tochter zum meet and greet dazu. Ein skurriler Augenblick, die Stones wirken da linkisch und überaus sympathisch.

Scorsese hat, was Rock-Dokumentarfilme angeht, die Standards gesetzt. Er war Cutter beim „Woodstock“-Film von 1970, als eine Epoche ihren frühen Höhepunkt erreichte. 1978 drehte er „The Last Waltz“, das Abschiedskonzert von „The Band“ in San Francisco mit Neil Young, Joni Mitchell, Bob Dylan; der schönste Konzertfilm aller Zeiten. Denn die Band um Robbie Robertson hörte wirklich auf, als es am schönsten war. In „Like Going Home“ erzählte er 2003 die Geschichte des Blues, und zwei Jahre später schaffte er das unwahrscheinliche Kunststück, Dylan vor die Kamera zu bekommen. „No Direction Home“ taucht ein in die amerikanische Geschichte seit den fünfziger Jahren, ein musikalisches Pendant zu Scorseses Spielfilmen „The Aviator“ oder „Gangs of New York“.

Diese New Yorker Gang, angeführt von einem aufgedrehten, aufgeplusterten, hüftenschwenkend, Schnute ziehenden, dauerlaufenden androgynen Mick the Knife, führt nichts Böses im Schilde. Jagger, der Jogger. Die Rolling Stones haben alle Kämpfe gewonnen, die eine Rockband gewinnen (und verlieren) kann, hier stehen sie auf dem imaginären Schlachtfeld des ewigen Ruhms. Es ist so schön zu sehen und anzuhören, wenn sie Balladen spielen. Wenn Jagger bei „As Tears Go By“ zur Ruhe kommt. Sie haben die Größe, den schwarzen Musiker Buddy Guy auf die Bühne zu holen, back to the roots. Der steht wie ein Fels in der Brandung und schafft mit ein, zwei sirrenden Gitarrentönen, wozu die Stones all ihre unwahrscheinliche Power verbrennen: den Blues. Plötzlich wirken diese Mittsechziger aus England wie Schüler, und sie genießen diesen Augenblick der Wahrheit.

Genuss, das ist es! Scorsese und sein Team genießen die Extravaganzen, die ihnen die quecksilbrigen Stones zumuten. Die Setlist kommt in allerletzter Sekunde, Kamerafahrten werden zum Vabanque-Spiel. Das Präludium ist ein kleines making of, ironisch und weise. Scorsese, der Regisseur, so zappelig wie sein Frontmann Mick Jagger. „Shine a Light“: eine Hymne auf die Produktion von Licht- und Traumspielen. Was kann einem Filmfestival zur Eröffnung Besseres passieren!

Heute 15 Uhr und 18.30 Uhr (Urania). „Shine a Light“ kommt am 4. April ins Kino.

Rüdiger Schaper

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