Christian Thielemann und die Berliner Philharmoniker: Aufruhr der Gefühle
Bei den Berliner Philharmonikern dirigiert Christian Thielemann einen faszinierenden Abend mit Werken von Richard Strauss.
Christian Thielemann hat es eilig. Nimmt die Stufen zur Bühne mit langen Schritten und dirigiert den Anfang der Rosenkavalier-Suite mitten in den Applaus hinein. Medias in res, das passt zu Richard Strauss. Schon die äußerst selten gespielte Sonatine für 16 Blasinstrumente zu Beginn dieses reinen Strauss-Programms hatte gleich ins Dickicht geführt, voller eng verschlungener Kantilenen und unentwirrbarer Motivik. Orientierung zwecklos – zumal der Klang von 12 Holzbläsern und vier Hörnern doch recht amorph bleibt.
Aufruhr der Gefühle, die Wiener Gesellschaft als Rokoko-Fantasie: Die ungleich bekanntere Orchestersuite versammelt die süffigsten Stellen der Opernkomödie von 1911 um die rüstige Feldmarschallin, den ungeschlachten Baron Ochs und ihren jungen Lover Octavian. Ein Marketingtrick, um das gehypte Werk – es gab Sonderzüge zur Dresdner Uraufführungs-Inszenierung, sogar Rosenkavalier-Zigaretten – noch populärer zu machen; Strauss persönlich richtete diverse konzertante Arrangements ein.
Die Berliner Philharmoniker spielen jene Fassung, die wahrscheinlich der Dirigent Artur Rozdínskí erstellt hat, für einen Abend in der Carnegie Hall kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs (Strauss hat sie 1945 autorisiert). Und Thielemann entfesselt die Sinne, stürzt sich mit überbordender, fast grimmiger Lust ins Getümmel.
Alleine die Walzer hat man noch nie so verwegen gehört. Der Maestro, vor vier Jahren aussichtsreichster, aber umstrittener Konkurrent von Kirill Petrenko als Rattle-Nachfolger, entlockt den Philharmonikern einen derart mit Eleganz und Geschmeidigkeit getränkten Eros, dass man sich kaum mehr in der preußischen Hauptstadt wähnt. Christian Thielemann geht bodentief in die Knie, verwandelt die Suite mit wirbelnden Fingern in ein Fest der kapriziösen Manierismen, dem Konzertmeister Daishin Kashimoto oder auch der Oboist Albrecht Mayer und Klarinettist Andreas Ottensamer Glanzlichter aufstecken.
Alles dreht sich, alles schwankt bei diesem mit Rubati und radikal nuancierter Lautstärke dynamisierten Bacchanal – eine Massenpsychose. Man denkt an die irre Orgie in Patrick Süskinds „Parfum“, den „schwarzen Jubel“ des mörderischen Duftgenies Grenouille.
Bei den Hölderlin-Hymnen dominieren duftige Parfums
Man muss das nicht mögen, aber es ist unwiderstehlich. Zumal Thielemann schon die ätherischen, von Harfe und Celesta gefärbten Akkorde – in der Oper die Überreichung der silbernen Rose – zu schillernden Klangblüten verfeinert und nach den Walzerkreiseln aus dem 2. Akt eine bittersüße Hymne an die Liebe folgen lässt, durchsetzt mit lasziven Sekundreibungen. Bis nach der Generalpause der Auftaktwalzer aus dem dritten Akt anhebt, mit militärischem Zack.
Ein Schluss, der alles wegfegt, selbst die Erinnerung an die ebenfalls selten aufgeführten, 1921 entstandenen „Drei Hymnen von Friedrich Hölderlin“, op. 71. Hier dominieren duftige Parfums: Thielemann mahnt zur Zurückhaltung, hält den Stab zwischen Daumen und Mittelfinger, als prüfe er feinste Seidengewebe.
Die Elogen auf die Liebe, die Heimat und das Vaterland wandeln sich zur lichtdurchfluteten Impression, zur gleißenden Chimäre mit brodelnden Bässen und nuanchenreichen Beschwörungsformeln von Anja Kampe. Die Wagner-Sopranistin beherrscht weniger das subtil Irrlichternde als das Ekstatische bei Strauss, worunter die Textverständlichkeit leidet. Was allerdings auch an Hölderlins blumigen Zeilen liegt.
Ein umjubelter Abend, der einmal mehr die Wandelbarkeit der Philharmoniker demonstriert, ihre Kunst, die so unterschiedlichen Klangvorstellungen ihrer Gastdirigenten umzusetzen. Am Donnerstag hatten sie den Strauss-Werken Wagners Lohengrin-Vorspiel vorangestellt, zum Andenken an den jüngst verstorbenen, ebenfalls von den Musikern hochgeschätzten Mariss Jansons. Die Wiederholung der Hommage bei der dritten Aufführung am Sonnabend wird für die Digital Concert Hall aufgezeichnet.