Klassik-Profis in der Pandemie: Aufgestaute Kreativität
109 von 129 Orchestern in Deutschland sind derzeit in Kurzarbeit. Die Musikergewerkschaft fordert einen differenzierten Neustart des Kulturlebens.
Ein Musiker des Frankfurter Museumsorchester ist jetzt Hobby-Imker. Woche für Woche habe der Kollege während des ersten Lockdowns bei der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) angerufen, um zu fragen, wann es denn endlich wieder mit Aufführungen losgehen könne, erzählt Jean-Marc Vogt, der Vorsitzende der Musikergewerkschaft. So sehr er auch nachvollziehen könne, dass es den sendungsbewussten Mann zurück auf die Bühne zieht – irgendwann musste sein Interessenvertreter ihm dann doch sagen: „Du brauchst neben deinem Instrument unbedingt noch eine weitere Beschäftigung!“ Schließlich habe sich der Musiker drei Bienenvölker angeschafft, berichtet Vogt. Danach blieben seine Anrufe aus – sein Honig-Ertrag aus dem Corona-Sommer soll übrigens sehr gut gewesen sein.
Bei der Jahrespressekonferenz der DOV geht es normalerweise um Statistiken, um Besucherzahlen, die wachsende Zahl der Kinder- und Jugendkonzerte, die immer noch suboptimalen Prozentzahlen von Frauen in Berufsorchestern sowie die Entwicklung der Planstellen in den 129 staatlich geförderten Orchestern der Bundesrepublik Deutschland. Am Montag, bei der ersten Online-Ausgabe des Medientreffs, aber war alles anders. Die erzwungene Stille, die landesweit in den Theatern und Konzerthäusern herrscht, wurde zum Hauptthema.
85 Prozent der fest angestellten Musikerinnen und Musiker befinden sich aktuell in coronabedingter Kurzarbeit. Lediglich die elf Rundfunk-Ensembles arbeiten weiter und realisieren ihre Projekte nun ausschließlich für Radioübertragungen. Ebenso wie die Berliner Philharmoniker, die mit ihrer Digital Concert Hall sogar über ein eigenes, weltweit aktives Verbreitungsmedium verfügen.
Wie auch sonst überall in der Wirtschaft sichert die Umstellung auf Kurzarbeit bei den Stadt- und Staatstheatern den Fortbestand der Arbeitsplätze während der Pandemie. Und glücklicherweise ist von Kulturkürzungen derzeit auch noch fast nichts zu hören, mit den Negativ-Ausnahmen in Jena und München. Für seine Branche blickt DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens darum recht optimistisch in die Zukunft.
Und macht schon Pläne für die Wiedereröffnung: Darüber soll seiner Meinung nach nicht wie bislang üblich pro Bundesland entscheiden werden, sondern viel detailgenauer, nämlich auf Kreisebene. Die Flecken auf der Landkarte, die eine Inzidenz von unter 50 Fällen pro 100 000 Einwohner in der Woche ausweisen, werden nämlich immer mehr. Baden-Baden, Rostock oder auch Lüneburg gehören aktuell dazu – und müssten darum ihre Kultureinrichtungen auch wieder aufmachen dürfen, findet Mertens. Publikum wie Klassikprofis dürsteten schließlich gleichermaßen nach der Live-Kommunikation miteinander.
Gut täte ein baldiger Neustart auch den freiberuflichen Musikerinnen und Musikern. Denn für ihre Situation seit nunmehr elf Monaten fällt Gerald Mertens nur ein passender Begriff ein: „Absturz“. Die meisten von ihnen stehen nämlich ganz ohne Einnahmen da. 30 Prozent der Soloselbständigen im Klassiksektor denken darum bereits über einen Berufswechsel nach, wie gerade eine Umfrage des Berliner Landesmusikrates bei 400 Betroffenen ergab. Ähnliche Zahlen weiß der DOV-Geschäftsführer aus Großbritannien zu berichten.
Über eine Spendenkampagne der Deutsche Orchesterstiftung kamen seit März 2020 immerhin 4,1 Millionen Euro zusammen, die an Freischaffende ausgeschüttet werden können. Langfristig aber fordert die DOV einerseits die Erweiterung der Arbeitslosenversicherung auch für Selbständige, – nach dem Vorbild des „Schlechtwettergeldes“ aus der Bauindustrie –, und andererseits eine kulante Haltung der Künstlersozialkasse (KSK). Deren Mitglieder dürfen lediglich 450 Euro pro Monat im nichtkünstlerischen Bereich dazuverdienen, wenn sie nicht aus der KSK fliegen wollen. Diese Klausel müsse ausgesetzt werden, fordert die DOV, denn anders als mit einem Alternativjob könnten sich viele Künstlerinnen und Künstler nun einmal derzeit nicht über Wasser halten.
Mit Blick auf die Kommunen, die landauf, landab den allergrößten Teil der Kulturausgaben schultern, wünscht sich die Orchestergewerkschaft vom Bund ein mehrjähriges Förderprogramm, das die Städte und Gemeinden aktiv dabei unterstützt, die lokale Infrastruktur aufrechterhalten zu können. „Überall hat sich während der Pandemie so viel kreative Energie aufgestaut“, betont Mertens am Montag, „die gilt es jetzt zu nutzen!“ Frederik Hanssen