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Die Ruhe vor der Eröffnung. Die Belgierin Annemie Vanackere.
© Kai-Uwe Heinrich

Hebbel am Ufer: Aufbruch zu neuen Ufern

Für ein sinnliches Theater: In der kommenden Spielzeit übernimmt Annemie Vanackere die Leitung des HAU. Ein Porträt der Intendantin aus Belgien

Das haben schon viele erlebt. Berlin gibt sich kosmopolitisch, großzügig, offen – und dann läuft es doch kleinteilig und nicht freundlich ab, in eingefahrenen Zirkeln. Annemie Vanackere kann das nicht passieren. Die künftige Intendantin des Hebbel am Ufer kennt ihre neue Wirkungsstätte gut. Berlin, sagt die 46-jährige Belgierin, ist mittlerweile die „Spaßhauptstadt Europas“, mit all den Partys und Touristen und Ausgehgeschichten. Und sie weiß eben auch, dass der Spaß für viele Künstler, die hier leben, schnell einmal ein Ende haben kann. Mieten steigen, zumal für Ateliers und Probenräume, und die Rolle des Theaters hat sich verändert, überall.

Der Blick in die Historie lohnt. Als das Haus, das Annemie Vanackere zur kommenden Spielzeit übernimmt, aus ruinösem Zustand wachgeküsst wurde, schrieb man das Jahr 1988. Berlin nannte sich „Kulturstadt Europas“; da waren Propheten am Werk. Nele Hertling war die erste Chefin des Hebbel-Theaters der Neuzeit. Damals begann sich ein europäisches Netzwerk neuer Bühnen zu bilden.

In diesen Tagen feiert nun Matthias Lilienthal seinen langen Abschied, nach neun sagenhaften HAU-Jahren. Für den 24-Stunden-Performance-Marathon „Infinite Jest“ hat er noch einmal sämtliche Kräfte mobilisiert. Alles hat ein Ende, auch der „Unendliche Spaß“ der systematischen Überforderung. Die Zeichen stehen wieder auf Anfang. Lilienthal hört auf, er hat alles gegeben, schöner wird es nicht mehr. Im Grunde eine glänzende Ausgangslage für die Nachfolgerin.

Das Hebbel am Ufer bleibt jedenfalls der Ort für internationale Theater- und Tanzproduktionen. Und die Berliner freie Szene, die sich so stark internationalisiert hat, wird weiter auf den drei Bühnen des HAU aktiv sein. Aus Lissabon kommt Ricardo Carmona, er wird für den Tanz verantwortlich sein, Aenne Quinones, früher Volksbühne, wird stellvertretende Leiterin.

Behutsame Veränderungen zeichnen sich ab. Osteuropa ist ihr wichtig, sagt Annemie Vanackere. Zu den ersten Stücken, die sie zeigen wird, gehört die Inszenierung des Ungarn Kornél Mundruczó nach J. M. Coetzees Roman „Schande“. Und Jerome Bel wird bei der Eröffnung dabei sein. Zuvor muss die technische Einrichtung im HAU 2 erneuert werden. Am 1. November beginnt die Vanackere-Zeit, das neue Kapitel in der Geschichte des Hebbel-Theaters. Vor einem Vierteljahrhundert war das Haus ein avantgardistischer Vorposten, ein ständiger Festivalbetrieb brach los. All das ist längst Mainstream, und es bedeutet keine kleine Herausforderung, andere Akzente zu setzen, einen Weg herauszufinden aus der Durchformatierung der Szene – auch in Konkurrenz zu den Berliner Festspielen, die ihrerseits mit Thomas Oberender einen neuen Leiter haben und die Stadt bespielen, befragen wollen.

Langfristig will Vanackere mit dem Regisseur Laurent Chétouane und der Choreografin Meg Stuart zusammenarbeiten, also mit Künstlern, die irgendwann und irgendwo auch schon einmal in Berlin waren, aber ohne künstlerische Heimat sind. Die Gruppe She She Pop kennt man hier bestens. Deren unterhaltsamen ost-westdeutschen Erfahrungsabgleich „Schubladen“ nimmt das HAU wieder in den Spielplan auf.

Annemie Vanackere meidet Begriffe wie nachhaltig und Entschleunigung, aber ihre Überlegungen gehen in diese Richtung. Zu viel, zu schnell, zu kurz: Aktualitätswahn und mediale Getriebenheit sind ein Problem, über das Theaterleute allmählich zu reden beginnen. Ja, und warum nicht, sagt Annemie Vanackere. Warum sich nicht etwas mehr Zeit nehmen und wertvolle Produktionen nicht gleich wieder wegwerfen ...

Annemie Vanackere hat Philosophie studiert und besitzt reichlich praktische Theatererfahrung. Sie arbeitete in Gent und an der Schouwburg in Rotterdam, dort sind Staatstheater und Off-Szene nicht so streng getrennt wie hierzulande, man ist flexibler. Das passt zum HAU. Sie versprüht Witz und Eleganz. Fragt man nach ihren prägenden Theatererlebnissen, tauchen Namen wie Anne Teresa de Keersmaeker, Wim Vandekeybus, Alain Platel oder auch Jan Fabre auf, die „flämische Welle“. Was diese Theaterkünstler und Choreografen am klarsten charakterisiert, ist das Grenzüberschreitende. Ihre Arbeiten zeichnen sich aus durch starke Körperlichkeit. Zärtlichkeit, Härte und Musikalität. Es ist ein sinnliches Theater, das Annemie Vanackere liebt und sucht. Etwas, das in der Intellektualität des kuratorischen Eifers oftmals verloren geht.

Die neue HAU-Chefin ist Europäerin, und wo wäre Europa bodenständiger und internationaler, zentraler und zerrissener als in Belgien, „zwischen den Türmen von Brügge und Gent“, wie Jacques Brel einst sang? Demnächst reist Annemie Vanackere zu einem Festival nach Afrika. Nicht unbedingt, um Stücke einzukaufen, sondern um Eindrücke zu sammeln, wie sie sagt. Letztes Jahr haben Janet Cardiff und George Bures Miller ihr „Ship o’ fools“, ein Narrenschiff, vor dem HAU auf die Wiese gestellt. Das Hebbel liegt am Ufer so vieler Flüsse und Meere, daran wird sich nichts ändern.

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