Lukas Bärfuss' Roman „Koala“: Auf Erden nicht zu helfen
Wütend, verzweifelt, aufrichtig: Lukas Bärfuss erzählt in seinem mutigen Buch „Koala“ vom Scheitern seines Bruders.
Dies ist kein Roman, auch wenn es so auf dem Cover steht – aber ein sehr mutiges Buch, streng, kompromisslos, dabei voll formaler Brüche und emotionaler Sprünge. Als Leser fragt man sich, warum ein erfahrener Erzähler und Dramatiker diese radikale Geschichte so karg und stellenweise fast tonlos geschrieben hat. Dafür berührt der sehr private, aufrichtige Ton des Buches, das sich über weite Strecken dem Erzählen verweigert, umso mehr. Ist es also eine Trauerarbeit? Ein Requiem? Oder eine Selbsttherapie, die den steinigen Weg der eigenen Rettung nachzeichnet?
„Helden sind wir alle auf die gleiche Art. Schwach sein und scheitern dagegen – das ist etwas sehr Persönliches und Liebenswürdiges“, erklärte Lukas Bärfuss in einem Interview. Der Mensch, von dessen Scheitern er hier erzählt, ist sein Bruder, von dem er, wie er nach dessen Selbstmord eingestehen muss, kaum etwas wusste. Einer der wenigen Fakten: In einer angsterfüllten Initiationszeremonie hatte sein Bruder – dessen richtigen Namen man nicht erfährt – bei den Pfadfindern den Namen „Koala“ erhalten, den der Erzähler sich nicht erklären kann, dem er nachlauscht und der für ihn zur Einstiegsluke in diese Geschichte wird.
Es gibt noch eine zweite. Denn in Bärfuss’ Schweizer Heimatstadt hatte auch Heinrich von Kleist eine Zeit lang gelebt, und der Autor wurde im November 2011 zu einem Vortrag über ihn eingeladen – es sollte die letzte Begegnung mit dem Bruder werden, der den Ort nie verlassen hatte. Kleist wollte hier Bauer werden, auf einer Insel im Flüsschen Aare, doch diesen Plan, vermutet Bärfuss, hatte er wohl nur gefasst, um daran zu scheitern.
Die kunstvoll nüchterne Sprache Heinrich von Kleists hat bei dieser Geschichte Pate gestanden, und die unerhörte Konsequenz seiner Selbsttötung am Kleinen Wannsee, nach dem Mord an seiner Seelenfreundin Henriette Vogel, liefert dem Autor einen entscheidenden Hinweis: Auch sein Bruder musste wohl zu dem Schluss gekommen sein, dass ihm „auf Erden nicht zu helfen war“, und legte ohne jede Gefühlsaufwallung und ohne jeden Fanatismus sein Leben ab wie ein überflüssiges Kleidungsstück. Zum Sterben stieg er in die Badewanne, um keinen Schmutz zu verursachen – als wäre „die größte Zumutung eines Selbstmörders nicht sein Tod, sondern der Schmutz, den er hinterlässt“, kommentiert der Erzähler bitter.
Autor und Erzähler sind hier weitgehend identisch, das sprechende Ich ist Lukas Bärfuss selbst, geboren 1971 in Thun. Und im ersten Teil des Buches kämpft er sichtlich mit seiner sprachlosen Trauer: In Sätzen, die wie versteinert wirken, beschreibt er knapp die Rückkehr in das Städtchen, nach seinem Vortrag über den Selbstmörder Kleist, um etwas über den nächsten Selbstmörder, seinen Bruder, zu erfahren, der sich mit einer Überdosis Heroin das Leben genommen hat. Er beobachtet sich dabei, wie er, aus der Hauptstadt angereist, alles zu vermeiden sucht, „was geschmeidig, anmutig oder gebildet erscheinen könnte“, und wie ihm sofort die Sätze im Mund verklumpen.
Wenn auch die Sprache nicht weiter hilft.
Harsch setzt sich Bärfuss mit diesem Tod auseinander. Seine Gedanken und Sätze drehen sich im Kreis, und alle Trostworte sind ihm ein Gräuel. Aber mit dieser ungeschützten Haltung offenbart er, genauer als mit jeder ausführlichen Erklärung, die Not, in der er steckt. Denn auch die Sprache hilft nicht weiter, „der Selbstmord sprach für sich, er brauchte keine Stimme, und er brauchte keinen Erzähler. Die Gespräche, zu denen er einlud, vertrugen keine Stimme und keine Worte.“
Mechanisch, trotzig und verzweifelt sucht er in Büchern und Museen nach einem Argument gegen jene niederschmetternde Antwort, die sein Bruder gegeben hat – und verliert sich plötzlich in der Geschichte jenes Kontinents, auf dem der Koala zu Hause ist. Seine Sätze, die sich vorher über Geröllhalden schleppten, beginnen zu tanzen, denn hier steckt die Lösung. Dieser temporeich und einfühlsam erzählte Ausweg, der einen Großteil des schmalen Romans ausmacht, ist sein tröstlichster Teil: eine üppige, detailgenaue Geschichte von Not und Neugier, Heimweh und Gewalt. Die unermessliche Schöpfung öffnet sich hier in ihrer ganzen Vielfalt – und mittendrin der Koala mit seinem bizarren Lebenswandel.
Es ist ein riskantes Experiment, das Bärfuss wagt. Doch es gelingt eindrucksvoll – auch wenn der Leser sich anfangs genauso nach Australien verbannt fühlt wie die ersten Siedler. Aber mit nur zwei Sätzen biegt der Erzähler die ganze Existenz des Koalas auf den Bruder zurück, und man liest mit Rührung von dessen unbeholfen-phlegmatischem Körper und seiner sonderbaren Wehrlosigkeit. Der dick bebrillte, ehrgeizlose Bruder in quietschgelber Jogginghose auf dem Sofa, einen Joint bauend, erscheint plötzlich als Abbild des einzelgängerischen Beutelbärs – sorgfältig akzentuierte und leuchtende Bilder sind eine der Stärken dieses Buches, neben den vielen eindringlichen Szenen mit genau komponierter Bewegungsregie, der Handschrift eines erfahrenen Theaterautors.
Doch noch ist der endgültige Durchbruch in diesem Selbst-Experiment, das sich auch als Initiationsgeschichte eines verzweifelten Schriftstellers lesen lässt, nicht geschafft. Denn nun geht es zurück in das „Scheißkaff“, zu den Menschen mit den zusammengepressten Lippen. Die qualvoll wortkarge Beerdigung wird nur sehr knapp geschildert, ein Scheitern mit Ansage, das im Kontrast zur geschmeidigen Erzähllust des australischen Teiles besonders krass zeigt, wie dem Erzähler hier nicht nur er selbst, sondern auch die Welt abhandenkommt. Denn gerade Thun müsste er als eigenwilliges und erzählenswertes Stück der Schöpfung sehen – es hat in ihm den heftigen Wunsch geweckt, Schriftsteller zu werden. Und es verstärkt diesen Wunsch jetzt nochmals: Lukas Bärfuss flieht aus der verdrucksten Trauerfeier im Pfadfinderheim, fährt zurück nach Zürich, setzt sich an den Schreibtisch und beginnt zu arbeiten.
Lukas Bärfuss: Koala. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 184 Seiten, 19,90 €.
Nicole Henneberg
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