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Virtuose der neuhochdeutschen Lautverschiebung. Der Dichter Jan Wagner.
© imago/STAR-MEDIA

Büchner-Preis an Jan Wagner: Auf Du und Du mit dem Grottenolm

Nah an der Natur, dicht am Gedanken: Der Berliner Lyriker Jan Wagner erhält den Georg-Büchner-Preis.

Als sähe man die Welt zum ersten Mal. Vielleicht ist das der schönste Effekt gelingender Literatur – und das wichtigste Kriterium, um sie gegen die Bestätigungsnarkosen trivialeren Schreibens abzugrenzen. Auch das Epische und das Dramatische haben die Kraft, einem die Augen zu öffnen. Doch nur die Dichtung tut das mit jener Plötzlichkeit, in der Konstellationen und Dimensionen zu einem einleuchtenden Sekundenbild zusammenschießen, das mehr oder weniger sanft unter der Schädeldecke explodiert und den gewohnten Wahrnehmungshaushalt für immer umstoßen kann.

Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren und seit vielen Jahren in Berlin zu Hause, versteht sich wie kein zweiter deutschsprachiger Lyriker seiner Generation auf solche epiphanischen Momente. Momente, in denen das Ich, das seine Gedichte durchaus aufbieten, aus seinem anthropozentrischen Hochmut entrückt und in einen demütigeren naturgeschichtlichen Zusammenhang eingewiesen wird. Von daher gibt es bei ihm zahllose Tier-, Pflanzen- und Dinggedichte, denen aber selbst bei glänzend polierter Oberfläche nichts Idyllisches anhaftet. Sie zielen vielmehr auf eine unheimliche Gleichzeitigkeit von Verfall und Wildwuchs, Kompostierung des Abgestorbenen und Auferstehung zu neuem Leben.

Für sein Werk erhält Wagner nun am 28. Oktober die angesehenste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur, den mit 50 000 Euro dotierten Georg- Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Texte, heißt es in der Begründung, „erschließen eine Wirklichkeit, zu der Naturphänomene ebenso gehören wie Kunstwerke, Sujets der Lebens- wie der Weltgeschichte, erste Fragen und letzte Dinge. Aus neugierigen, sensiblen Erkundungen des Kleinen und Einzelnen, mit einem Gespür für untergründige Zusammenhänge und mit einer unerschöpflichen Fantasie lassen sie Augenblicke entstehen, in denen sich die Welt zeigt, als sähe man sie zum ersten Mal.“ Da steht es wieder: Man kann Wagners sechs Gedichtbände fast an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und wird fündig.

Ab in die nächste Tropfsteinhöhle

Zwei Beispiele. Etwa die „Champignons“ aus seinem Debüt „Probebohrung im Himmel“ (2001), in dem sich gleich anfangs menschliche und vegetative Ordnung gegenüberstehen: „wir trafen sie im wald auf einer lichtung / zwei expeditionen durch die dämmerung / die sich stumm betrachteten. zwischen uns nervös / das telegraphensummen des stechmückenschwarms.“ Damit nicht genug: „später in der küche hielten wir / die pilze ans ohr und drehten an den stielen – / wartend auf das leise knacken im inneren, / suchend nach der richtigen kombination.“ Kann man je wieder Champignons kochen, ohne ihnen ein ähnliches Geheimnis ablauschen zu wollen?

Oder der „grottenolm“ aus den „Regentonnenvariationen“ (2014), das unscheinbarste, hässlichste und der eigenen Gattung scheinbar fernste Tier, dem man begegnen kann: „in einem reich ohne licht / und ohne farben, ohne wind, / sitzt der olm, der keine feinde / außer der sonne hat, zarter als die arbeit / von glasbläsern ist, kaum schwerer als ein brief / und leichter als ein schluck wasser. / weiß er nichts von unserer welt / oder weiß er alles? mit einer haut, / so durchlässig, dass sie nichts verwehrt / und alles aufnähme an giften, / an reichtümern, beschränkt er sich / aufs wenige, verzichtet aufs essen, / sogar auf den eigenen schatten.“ Will man ihm in der nächstgelegenen Tropfsteinhöhle nicht sofort einen Besuch abstatten?

Und das ist nur die phänomenologische Außenseite von Jan Wagners Kunst, die in ihrem Inneren Laute, Silben und Wortraritäten auf der stets mitschreibenden Zunge herumschiebt, bis sich aus Klängen Ideen ergeben und Gedanken Ideen zeugen. Eine möbiusartige Verschlingung des Intellektuellen und des Sinnlichen, die von bestechender Intuition und einem hoch entwickelten Handwerk zeugt. In der Durcharbeitung des Materials, das auch in der tradierten Form von Sonetten, Villanelles oder Terzinen rhythmisch beweglich und gedanklich offen bleibt, lässt sich Wagner jedenfalls schwer übertreffen, und dass er auch dem lässigen slant rhyme, wie im Englischen die durch die Zeilen wandernde Assonanz mitten im Wort, der „Reim in Schräglage“ (Wagner), genannt wird, zu einer neuen Heimat verholfen hat, spricht für eine Spielfreude, die mit der Regel so frei umspringt wie mit deren Aufhebung.

Vertraut mit allen Kniffen

Das alles wäre kaum möglich, wenn der studierte Anglist als Übersetzer von Simon Armitage oder Robin Robertson wie als Autor erhellender, in zwei Bänden gesammelter Essays (u. a. über den Tierschamanen Ted Hughes) nicht jeden poetischen Kniff in- und auswendig gelernt hätte: Er betreibt das Eigene so originell wie das Maskenspiel. Denkwürdig die Erfindung der drei Dichter Brant, Vischhaupt und Miller, deren Werk er in „Die Eulenhasser aus den Hallenhäusern“ aus dem angeblich Verborgenen zurück in die Literatur holte.

Welches Talent da heranwuchs, wurde früh erkannt. Jan Wagner ist sicher der meistdekorierte deutsche Lyriker der letzten Jahre. Sein Ruhm reicht inzwischen bis nach China, wo er neben Zheng Min gerade mit dem Zhongkun International Poetry Prize der Peking-Universität ausgezeichnet wurde. Wer jetzt aber, neben schnell aufzustöbernden Neidern, ernsthafte Gegner seiner Poesie sucht, dürfte nicht nur an der menschenfreundlichen Person des Dichters scheitern.

Anruf eines Funkredakteurs, der seit Stunden vergeblich einem widerborstigen Kritiker das Wort erteilen will. Er wird sich wohl noch lange die Finger wundtelefonieren. Nennen wir den Büchner-Preis für Jan Wagner einfach eine glückliche Entscheidung.

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