Georgische Literatur: Auch wir in Kaukasien!
Die Anthologie „Techno der Jaguare“ versammelt sieben georgische Schriftstellerinnen mit neuen Tönen. Eine Begegnung mit der Herausgeberin Manana Tandaschwili, die Vergleichende Sprachwissenschaft an der Frankfurter Goethe-Universität lehrt.
Georgien ist ein fernes Land. Es rückt sofort näher, wenn man Manana Tandaschwili in einem Frankfurter Café gegenübersitzt. Die energische Georgierin ist Professorin für kaukasische Linguistik am Institut für Empirische Sprachwissenschaften der Frankfurter Goethe-Universität. Hört sich trocken an. Aber nur so lange, bis Tandaschwili loslegt und von den Sorgen, Überraschungen und Abenteuern erzählt, die ihr die 70 Sprachen ihrer kaukasischen Sprachfamilie bescheren. Einige werden nur noch in einem einzigen Dorf und dort nur von den Alten gesprochen. Tandaschwili sammelt sie in einer einzigartigen Datenbank und forscht implizit auch über Sprach- und Sozialverhalten von Minderheiten und über die kaukasische Identität. In Georgien sind solche Themen ein Politikum, seitdem nach der Unabhängigkeit nationalistische Töne laut wurden.
Hört man zu, wie Tandaschwili mit Leidenschaft von ihrer Arbeit erzählt, ist man im Handumdrehen ein Fan der Kaukasologie und fasziniert von dem multiethnischen, multireligiösen Raum, aus dem die Wissenschaftlerin stammt.
Ihre Trauer ist echt, wenn sie sagt: „Mit jeder Sprache, mit jeder Gruppe verschwindet etwas Schönes, verschwindet die Vielfalt.“ Gegen das Verschwinden kämpft sie nicht nur als Linguistin. Vor Jahren kam Tandaschwili als Humboldt-Stipendiatin nach Deutschland. Irgendwann merkte sie, dass ihre Kinder kaum noch Beziehungen zur georgischen Heimat der Mutter haben.
Tandaschwili zögerte nicht lange: Sie gründete eine Sonntagsschule. Es folgten ein Kulturverein, ein Arbeitskreis für Übersetzung und Lektorat und schließlich ein Literatursalon für das deutsche Publikum. Das fand Anklang, und 2010 gab sie mit ihrem Kollegen Jost Gippert eine erste Anthologie zur georgischen Gegenwartsliteratur heraus. Jetzt erscheint die zweite: „Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien“.
Von den sieben Autorinnen, die sich mit kurzen Prosa-Stücken vorstellen, waren einige schon Stipendiatinnen im Literarischen Colloquium Berlin. Aber nur Tamta Melaschwili, deren Roman „Abzählen“ ins Deutsche übersetzt ist und 2012 für die Hotlist der unabhängigen Verlage nominiert war, und die Theaterautorin Nino Haratischwili, die auf Deutsch schreibt und 2011 mit „Mein sanfter Zwilling“ den Preis der Hotlist gewann, nachdem sie schon mit ihrem Romandebüt „Juja“ 2010 enorme Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, sind hierzulande bekannt. Dabei sind die anderen fünf Autorinnen in Georgien für ihre Erzählungen und Romane auch schon ausgezeichnet worden. Eine Leistung, denn sie alle haben neben dem Schreiben Brotberufe, arbeiten an der Universität, sind Psychiaterin, Journalistin oder Moderatorin und engagieren sich sozial und politisch.
Vor der Unabhängigkeit gab es fast keine Prosa-Autorinnen in Georgien
„Warum wir gerade Frauen für diese Anthologie ausgewählt haben?“, fragt Tandaschwili sich selbst. Sie holt für die Antwort aus: In der Sowjetzeit habe die Literaturproduktion in Georgien geblüht. „Es entstanden immer wieder wahre Kunstwerke, antisowjetisch, aber so schön verpackt, dass die Zensur es nicht gemerkt hat. Seit der Unabhängigkeit ist kulturell plötzlich viel weniger passiert.“ Das habe vor allem an der Kriegssituation gelegen. „Die Leute waren frustriert und müde vom Bürgerkrieg in den 90er Jahren, den Kriegen gegen Abchasien und Südossetien, den Regierungswechseln und Enttäuschungen. Und jetzt schreiben auf einmal so viele Autorinnen wie nie zuvor."
Dazu muss man wissen, dass es vor der Unabhängigkeit so gut wie keine Prosa-Autorinnen in Georgien gab. „Die starke Stimme der Prosa war Männersache“, erzählt Tandaschwili. Dass jetzt so viele weibliche Stimmen die georgische Literatur prägen, hängt auch mit sozialen Entwicklungen zusammen, vermutet sie. „Die literarische Bühne wird genutzt, um den Wandel der sozialen Rollen zu zeigen. Die Frauen haben ja ansonsten keine öffentliche Bühne.“ Dabei sind sie es, die ihre Familien während der 1990er Jahre, als das Land im Chaos versank, durchgebracht haben.
So sieht es nicht nur Tandaschwili, sondern auch Nino Haratischwili, Jahrgang 1983. Sie hat mit „Die zweite Frau“, ein Theaterstück beigesteuert, in dem es um Ost-West-Klischees und um die festgefahrenen Rollen der Frauen geht. Zur Situation in Georgien sagt sie: „Die Männer verdienen kein Geld und die Frauen haben teilweise seit zehn Jahren ihre Kinder nicht gesehen, weil sie im Ausland arbeiten.“ Die junge, städtische Frauengeneration sei selbstbewusster, aber eigentlich sei es wie in Deutschland: Alternative Lebensmodelle würden auch von Seiten der Frauen nicht entworfen. Die Wünsche der Jüngeren unterschieden sich gar nicht so sehr von denen der Eltern. Die Orientierung richtet sich auf den Mann im Leben und die Mutterrolle.
Haratischwili erzählt von einer Situation in einem Restaurant in der Hauptstadt Tbilissi: Als es ans Bezahlen ging, habe eine Frau ihrem Mann unter dem Tisch das Geld gegeben. Haratischwili folgert: Die Frau verdient das Geld, aber der Mann muss bezahlen, und sie bestärkt ihn in dieser Rolle und damit in der Demütigung, dass er nicht zahlen kann. Es ist ein Tabu, in Georgien darüber zu reden, dass die Männer traumatisiert aus den Kriegen kamen, dass sie Drogenprobleme haben und ihre Familien nicht ernähren können. Die Frauen sprangen ein, als es ums Überleben ging.
Anerkennung dafür bekamen sie nicht, meint Tandaschwili. Darum geht es jetzt in der Literatur: um Anerkennung ihrer Leistungen im öffentlichen Raum. Deswegen hat sie nicht nur Erzählerinnen für ihren Band ausgewählt, sondern auch Texte, in denen der Konflikt der Geschlechterrollen anklingt. Und das tut er zum Teil auf literarisch außerordentlich originelle und zugleich traditionsbewusste Weise.
Das Land ist wie eine Schatztruhe voller Geschichten
Zum Beispiel in der Erzählung „Eine mit Buch und ihre erlesene Leserschaft“ von Maka Mikeladze. „Früh am Morgen, gleich nach dem Aufwachen, wurde ihr klar: Das Leben steckt voller Überraschungen. Ihr Spiegelbild teilte ihr mit, dass ihr über Nacht ein Buch aus dem Kopf gewachsen war.“ So beginnt Mikeladze eine surrealistische Entwicklungsgeschichte, eine Parabel über den Versuch, sich das Lebensbuch nicht mehr vorschreiben zu lassen, sondern selbst den Stift in die Hand zu nehmen.
Männer kommen in allen Texten des Bandes als unzuverlässige, egozentrische Liebhaber vor. Nur die grausame Künstlererzählung „Der andere W-E-G“ erzählt von einem Mann, der selbst Diskriminierungsopfer ist. Tandaschwili ist von dieser Erzählung besonders begeistert, weil sie sich mit einem weiteren Tabu auseinandersetzt: dem Leben behinderter Menschen in Georgien. „Die Themen liegen in Georgien auf der Straße, man findet dort eine Schatztruhe voller Geschichten“, sagt Nino Haratischwili und versteht nicht, warum so wenige georgische Autorinnen und Autoren diese Truhe der Realität öffnen. Aus Bequemlichkeit? Weil der Abstand noch nicht groß genug ist?
Mit „Fake City“, wie Tandaschwili die Stadt Tbilissi mit den glasglitzernden Prunkbauten der Regierung nennt, mit der Illusion von Sorglosigkeit und dieser Pseudofreude muss jedenfalls Schluss sein, auch in der Literatur. Schwierigkeiten habe ihr bei der Zusammenstellung des Bandes auch nicht die Textauswahl gemacht, sondern die Übersetzung. Die Struktur der Sprachen sei sehr unterschiedlich. Im Deutschen brauche man für einen Zusammenhang, der im Georgischen mit einem Wort erledigt wird, einen ganzen Satz. Das verlangsamt das Tempo.
Eine andere Schwierigkeit ist die Liebe der Georgier zum Witz und zum Spiel, beides lässt sich nur mit viel Erfahrung ins Deutsche übertragen. Man merkt den Übersetzungen des Bandes zuweilen an, dass hier Pionierarbeit geleistet wurde. Aber das macht nichts, denn die Bilder und Themen der Autorinnen lassen ahnen, was nach und nach zutage treten wird, wenn mehr Fördergelder eine Vertiefung der Arbeit ermöglichen. Eine Chance dafür besteht: Für 2015 hat sich Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse beworben. Als Tandaschwili in Georgien schüchtern gefragt wurde, ob das Land denn schon so weit sei, hat sie geantwortet: „Falsche Frage. Wir müssen anfangen.“ Man kann es sich auch für das deutsche Publikum nur wünschen, dass die Schatztruhe geöffnet wird.
Manana Tandaschwili und Jost Gippert (Hrsg.): Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M 2013, 256 S., 19,90 €.– Der Band wird am 14.3. und 16.3. im Rahmen der Leipziger Buchmesse jeweils zweimal in unterschiedlichen Gesprächsrunden vorgestellt. Genaue Termine unter www.frankfurter-verlagsanstalt.de.
Insa Wilke