Berlin und seine Theaterszene: Annemie Vanackere: „Berlin ist tough. Ich auch“
International und lokal: Die HAU-Intendantin Annemie Vanackere spricht im Interview über Theatermodelle und die Freie Szene – und ihr erstes Jahr im Hebbel am Ufer..
Frau Vanackere, Weihnachten steht vor der Tür, aber der Gabentisch der Freien Szene wird leer bleiben. Statt versprochener City-Tax-Millionen kommt nichts bei den Künstlern an. Frustriert Sie das?
Ja, natürlich. Wir haben die Kampagne der Koalition der Freien Szene unterstützt, von ganzem Herzen. Schon aus eigenem Interesse. Wir sind als HAU ja Teil dieser Szene und auch wieder nicht, das ist so ein Zwitterstatus. Aber wenn das Geld aus der City Tax den frei produzierenden Künstlern und Kollektiven zugutegekommen wäre, hätten wir davon auch profitiert, ganz klar.
Ist auf Berlins Kulturpolitiker kein Verlass?
Ich glaube eher, dass man in dieser Stadt nicht gewohnt ist, einen Plan für die Kultur zu formulieren. Was ist uns wichtig, was wollen wir unterstützen, wie sieht die Zukunft aus? In Rotterdam, wo ich die Schouwburg mitgeleitet habe, gab es den. Dort wurde geschaut: Was sind die Stärken der Stadt? Architektur und Design. Entsprechend hat man Schwerpunkte gesetzt. Wir haben ein internationales Festival etabliert, uns als interdisziplinäres Produktionshaus verortet, und die Reaktion seitens der Stadt war: interessant, das wollen wir fördern. Es geht darum, ein Klima zu schaffen, in dem Nachwuchs gedeihen kann – statt nur die höchsten Bäume zu pflegen.
Das Hebbel am Ufer ist als Theaterkombinat geschaffen worden, um die Freie Szene der Stadt zu binden. Empfinden Sie das noch als Ihren Auftrag?
Nach zehn Jahren hat sich die Szene natürlich verändert, ist noch differenzierter geworden. Ich denke immer das Lokale mit dem Internationalen zusammen. Wenn wir ausländische Gruppen einladen, schauen wir, was ihre Produktionen mit der Stadt zu tun haben. Und bei den Berliner Künstlern achten wir darauf, was für die internationalen Kollegen interessant sein kann. Ins HAU kommen permanent Kuratoren und Festivalmacher aus ganz Europa, um sich Arbeiten anzusehen.
Haben Sie die Arbeitsbedingungen, die Sie sich wünschen?
Wir werden ständig als Koproduktionspartner angefragt. Leider fehlt für viele Vorhaben der Produktionsetat. 2013 sind wir finanziell an unsere Grenzen gestoßen. Ein Beispiel: Wenn im März das neue Stück von Alain Platel, das er an den Münchner Kammerspielen macht, bei uns gastiert, kostet das 50 000 Euro. Solche Projekte wollen wir nicht einmal, sondern mindestens vier oder fünf Mal pro Jahr realisieren können! Die Mittel dafür habe ich nicht, die müssen wir beantragen. Auch für das 20-jährige Jubiläum von Gob Squad im Herbst.
Braucht Berlin ein anderes Fördersystem?
Das ist natürlich ein Riesenthema. Vieles ließe sich strukturell sicher offener denken. Ich bin bald zwei Jahre in Berlin und habe die Zeit auch gebraucht, um das hiesige Fördersystem überhaupt zu verstehen. Wie hart hier tatsächlich zwischen Institutionen und Freier Szene getrennt wird, das war mir vorher nicht klar. In den Niederlanden war es so, dass die großen Institutionen, wie alle anderen Künstler, im Vier-Jahres-Zyklus einen Plan mit ihren Vorhaben formulieren mussten.
Und das würden Sie empfehlen?
Jedenfalls stimmen die Relationen hier oft nicht. Auf der einen Seite werden Intendanten an große Häuser berufen, ohne dass der Auswahlprozess transparent wäre. Wohingegen es für jeden Fördertopf der Freien Szene eine Jury gibt, der man sein Vorhaben ganz konkret erklären muss. Geht es um 10 Millionen, fragt niemand nach, für 10 000 Euro wird ein enormer Aufwand betrieben.
Das Beispiel Sasha Waltz hat jüngst wieder gezeigt, dass die Stadt vor allem mit Künstlern ein Problem hat, die der Freien Szene entwachsen.
Es gibt keine Förderung, die auf solche Fälle angelegt ist. In den Niederlanden wurde es, um ein Beispiel zu nennen, Johan Simons mit ZT Hollandia ermöglicht, Schritt für Schritt zu wachsen. Der Weg muss nicht zwangsläufig in Richtung Institution führen. Das Ziel von She She Pop ist nicht das Stadttheater. Zugleich behauptet niemand, dass Förderungen auf Lebenszeit ausgesprochen werden sollen. Wenn sich eine Gruppe ästhetisch erschöpft hat, ist es völlig in Ordnung, neue Künstler zu unterstützen.
Die Kluft zwischen den großen Häusern und den freien Künstlern
Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele, hat unlängst den großen Systemwechsel gefordert. Er will die Projektkultur stärken und macht die Schere auf zwischen den Stadttheater-Interpreten und den unabhängigen Kreationisten.
Lieber würde ich grundsätzlich über Autorenschaft sprechen: der Künstler als Urheber eines Werks, bei dem die Interpreten, ob Schauspieler oder Tänzer, nicht nur Ausführende einer Idee, sondern an der Entwicklung beteiligt sind. Meg Stuart ist so ein Beispiel. Das Stück „Sketches/Notebook“ war gerade im Pariser Centre Pompidou ein Riesenerfolg. Diese Arbeit ist bei uns als Residenzprojekt entstanden, und genau das ist in Berlin innerhalb der gegebenen Förderstrukturen nur schwer zu realisieren. Von daher kann ich Oberenders Forderung, eine längerfristige Basis für unabhängige Strukturen zu schaffen, statt das Geld projektweise zusammenzukratzen, voll unterstützen. Ein Hans-Werner Kroesinger kann seine alten Arbeiten nicht wiederaufnehmen, weil er nur mit neuen Produktionen überleben kann. Das sind doch Wurstfabrikstrukturen.
Wenn die Forderung von Heiner Goebbels, des Intendanten der Ruhr-Triennale, Gehör fände, würde in jedem Bundesland ein Theater in ein „freies Haus“ umgewidmet. Braucht es wirklich mehr unabhängige Spielstätten? Das würde auch fürs HAU nicht zuletzt mehr Konkurrenz bedeuten.
Aber niemand spricht darüber, dass es in Berlin fünf Sprechtheater und drei Opernhäuser gibt. Wenn es um andere Strukturen geht, soll die Konkurrenz plötzlich ein Problem sein? Das sehe ich nicht so.
Zumindest fällt ja auf, dass die Berliner Festspiele sich mit ihren neuen Diskursformaten in Ihre Richtung bewegen.
Auch wenn wir am HAU Suchende sind, wissen wir ziemlich gut, wer wir sind. Unsere DNA ist sichtbar. Das gibt uns Schwung, auch wenn manchmal etwas danebengeht. Die Festspiele haben eine ganz andere Geschichte und sind dabei, sich neu zu finden. Aber das hat nichts mit uns zu tun.
Haben Sie nach einem Jahr HAU das Gefühl, gut in der Stadt angekommen zu sein?
Ja. Ich bin relativ viel unterwegs, und da spüre ich in Gesprächen immer wieder ein großes Interesse am HAU. Das Haus lebt, es hat seine Bedeutung für Berlin.
Fühlen Sie sich auch persönlich wohl?
Absolut. Die Stadt ist nicht schön, aber das ist Rotterdam auch nicht. Ich fühle mich in Städten nicht wohl, die wie ein Museum wirken, Amsterdam zum Beispiel. Oder Brügge! Berlin hat etwas Hartes, Toughes, aber ich auch. Das passt (lacht).
Möchten Sie einen Weihnachtswunsch an die Kulturpolitik formulieren?
Ganz unmaterialistisch: Dass die Politik der künstlerischen Praxis folgt. Und nicht umgekehrt. So wie wir Wege finden, für risikofreudige Künstler den richtigen Rahmen zu finden.
Das Gespräch führte Patrick Wildermann.
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