Kultur: Anmut und Wagemut
Bezaubernd schön: Das Frankfurter Städel Museum zeigt Skulptur und Malerei des Klassizismus.
„Romantik“ ist ein Begriff, der Besucher magisch anzieht. Irgendwo in deutschen Museen gibt es immer eine Ausstellung, die Romantisches im Titel führt. Der Gegenbegriff indessen, gegen den die Romantik anging, ist weit und breit nicht zu sehen. Die Ausnahme macht die Regel nur um so deutlicher. Es ist das Frankfurter Städel Museum, das den Begriff des „Klassizismus“ ganz unverkrampft benutzt: „Schönheit und Revolution“, unter diesem Obertitel wird am Main „Klassizismus 1770-1820“ verhandelt.
Mit dem Klassischen sollten es die Deutschen nicht haben? Das gilt doch zumindest für die Literatur nicht, die genau in die Eckdaten der Kunstausstellung des Städel fällt. Literarisch gesehen, ist es die Goethe-Zeit. Aber die Städel-Kuratoren wollten sich um Himmels willen nicht auf den nahen Pfad der Weimarer Klassik locken lassen. Also lassen sie auch Goethe außen vor. Dabei hatte der doch im Verein mit seinem Weimarer Präzeptor, dem – in der Geschichte ungnädig abgemeierten – „Kunscht-Meier“, und mit Hilfe der Weimarer „Preis-Aufgaben“ eben jenen Klassizismus als Kunstdoktrin durchzusetzen versucht, den das Städel in seiner Ausstellung gleich ganz auf europäischer Ebene ansiedelt.
Man muss gewiss nicht immer die Weimarer Provinz im Blick haben, wenn man europäische Phänomene betrachtet; aber es hilft, sie im Auge zu behalten. Denn Großes und Kleines, Welt und Provinz liegen beim Klassizismus nah beieinander. Im Städel zählt nur das Große. Man betritt die Ausstellung durch das Spalier zweier Heben, zweier göttlicher Mundschenkinnen, wenn man so sagen darf: die eine von Canova (1800/5), die andere von Thorvaldsen (1806/7). Und schon hat man den gottgleichen Rang erfasst, den die Skulptur, natürlich in weißem Marmor, im Klassizismus einnahm.
Die erste Hälfte der Frankfurter Ausstellung, auf zwei Ebenen im Ausstellungsanbau von 1990 verteilt, widmet sich der Rezeption der unerreichbaren Antike, dem griechischen Ideal Johann Joachim Winckelmanns, das dieser freilich nur durch die römische Umformung und Weitergabe an Renaissance und Barock kannte. Winckelmann (1717-1768), aus dem provinziellen Stendal in die Weltstadt Rom gekommen, versetzt dem römischen Spätbarock den Todesstoß. 1755 veröffentlicht er seine „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst“, die sich wie ein Lauffeuer verbreiteten. Die Antike, zu seiner Zeit schon an die drei Jahrhunderte wiederentdeckt, wird durch ihn zum absoluten Maßstab, an dem jeder Gegenentwurf zerschellt.
Das Schöne an hochrangiger Nachahmung ist ja, dass sie nie nur Nachahmung ist, sondern stets ein Darüberhinaus. Antonio Canovas (1757-1822) makellose Marmorskulpturen verwandeln die ganze Welt in ein Reich formstrenger Anmut – weit mehr, als die Antike es je gekonnt oder gewollt hätte. Und der Däne Bertel Thorvaldsen (1770-1844), der ihm bald nachfolgt, streut jenes Moment der Irritation ein, das aus dem Klassizismus den „romantischen Klassizismus“ macht , wie die Frankfurter Kuratoren definieren: Ihn runden erst Blick und Bedenken des Betrachters zum ganzen Kunstwerk. So schrieb August Wilhelm Schlegel, Zeitgenosse und Mitschöpfer der romantischen Kunsttheorie, bereits 1799, „die Phantasie“ werde „aufgefordert zu ergänzen und nach der empfangenen Anregung selbständig fortzubilden“.
Wie weit die Fantasie auch der Klassizisten im Einzelfall reichte, belegt das Fresko „Jupiter und Ganymed“. 1760 als antikes Fundstück ausgegeben, geriet alsbald der deutsche Maler in Rom, Anton Raphael Mengs (1728-1779), in den Verdacht der Autorschaft und also der Täuschung. Ihm wird es heute durchweg zugeschrieben.
Nun ist der Betrachter bereits ins Obergeschoss gestiegen, wo ihn beim Entrée nichts Geringeres empfängt als Jacques-Louis Davids „Tod des Marat“ von 1793, ein Schlüsselwerk der Epoche – in einer meisterlichen Replik des unausleihbaren Originals. David (1748-1825) ist der Maler der Revolution schlechthin. Und dieses ist das Bild schlechthin, das die zunächst blasse These von der revolutionären Potenz des Klassizismus zur blutvollen Realität erhebt. Nicht, weil Marat der politische Märtyrer ist; sondern weil er in antikischer Nacktheit und doch ganz im Hier und Jetzt ist und so beglaubigt, dass diese Revolution, an die er sein Leben verloren hat, jene Größe besitzt, die mit dem Untergang der Antike verschüttet wurde.
Doch auch die beiden engagierten Kuratorinnen der Ausstellung, Maraike Bückling und Eva Mongi-Vollmer, trauen ihrem Klassizismus nicht unbegrenzt. Vielmehr: nur höchst begrenzt. Denn die Programmbilder, die griechische und eher römische Tugenden verherrlichen und vor allem beständig die Selbstaufopferung fürs Vaterland fordern, lassen den heutigen Betrachter ratlos, wenn nicht gleichgültig. Sie sind Geschichte. Künstlerische Gegenwart hingegen sind die Unbotmäßigkeiten eines Johann Heinrich Füssli, eines John Flaxman, eines Asmus Jacob Carstens oder Johan Tobias Sergel – Künstler, die mit feinen Umrisslinien zeichnen, bei denen Gespenster irrlichtern oder die neben der Antike auch den vermeintlichen schottischen Barden Ossian bewundern, kurz: die eben anti- klassisch sind.
Und mit einem Mal wird bewusst, was die Kunstwissenschaft dem Ausstellungszyklus „Kunst um 1800“ verdankt, mit dem der unlängst verstorbene Werner Hofmann die Hamburger Kunsthalle in den 1970er und 1980er Jahren zum Mittelpunkt einer antiklassischen Klassizismusforschung gemacht hat.
Skulptur allerdings kam damals in Hamburg kaum vor. In Frankfurt hingegen ist sie jetzt reich vertreten. Man mag gar nicht schätzen, was ihr Transport, unter anderem aus der Petersburger Eremitage, gekostet haben muss. Aber nun, da sie da ist, bietet sie die rare Gelegenheit, die Besonderheit der Bildhauerkunst zu erfassen. Sie ist es, die im Klassizismus eine letzte Hochblüte erlebt hat, bevor sie zum massenhaften Denkmalsbetrieb des 19. Jahrhunderts verkam.
Johann Heinrich Daneckers „Ariadne auf dem Panther“ von 1814 allein genügt, das erzählerische Element des Klassizismus als Unterscheidungsmerkmal zur Antike deutlich zu machen. Daneckers Skulptur zeige „die Bezähmung der Wildheit durch die Schönheit“, hieß es damals aus dem Umkreis des Dichters Friedrich Schiller. „Es ist der Betrachter, der sie, über sie reflektierend, vollendet“, schreibt Kuratorin Maraike Bückling im schönen, reich illustrierten Katalog: Somit sei sie ein „Beispiel des ,romantischen Klassizismus’“. Und schon ist man bei der Gedankenkunst der Romantik, in der wir Deutschen uns stets bei weitem heimischer gefühlt haben als in der strengen Form des Klassizismus.
Frankfurt am Main, Städel Museum, Dürerstr. 2, bis 26. Mai. Katalog 39,80 €.
Bernhard Schulz
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