Frankfurter Buchmesse: Streit unter Brasiliens Autoren: Angst vor Schwarzen, Armen und Favelas
Die Liste der geladenen brasilianischen Autoren zur Frankfurter Buchmesse sorgt für Ärger unter den Schriftstellern: sie repräsentiere nicht Brasilien. Von "Vetternwirtschaft" und "Rassismus" ist die Rede. Dabei liegt das Problem ganz wo anders.
Seit ihrer Veröffentlichung sorgt sie für Ärger: die Liste mit den Namen der rund 70 brasilianischen Schriftsteller, die offiziell zur Frankfurter Buchmesse eingeladen wurden. Brasilien ist das Gastland der Messe, die am Dienstag feierlich eröffnet wird. Zusammengestellt hat die Liste die Stiftung Brasilianische Nationalbibliothek. Aus Protest hat nun Brasiliens bekanntester Schriftsteller, Paulo Coelho, seine Teilnahme an der Buchmesse abgesagt. Der „Welt am Sonntag“ sagte er, dass er von den 70 Schriftstellern nur 20 kenne. Von den anderen habe er noch nie gehört, es seien wohl Freunde von Freunden von Freunden. Coelho spricht von „Vetternwirtschaft“ und dass er die Mehrheit der ausgezeichneten jungen Autoren vermisse.
Coelhos Absage ist der Höhepunkt einer Diskussion, die mit der Bekanntgabe der Liste im Frühjahr begann. Denn alle Autoren darauf sind weiß – bis auf zwei: der indigene Daniel Munduruku und der schwarze Paulo Lins, Autor des Welterfolgs „Die Stadt Gottes“. Lins hat den Verantwortlichen im Interview mit dem Tagesspiegel Rassismus vorgeworfen. Die Liste repräsentiere nicht Brasilien, sondern eine elitäre Vorstellung von dem, was brasilianische Literatur sei. Der dunkelhäutige Autor Paulo Scott, dessen Indio-Roman „Unwirkliche Bewohner“ gerade im Wagenbach-Verlag erschienen ist, haut in die gleiche Kerbe. Er glaubt, dass er nur wegen seiner Hautfarbe nicht nach Frankfurt eingeladen worden sei, wie er auf dem Internationalen Literaturfestival in Paraty bekräftigte.
"Keine ethnischen Kriterien bei der Auswahl"
Auf den Rassismusvorwurf hat Brasiliens Kulturministerin Marta Suplicy reagiert: „Es gab keine ethnischen Kriterien bei der Auswahl der Autoren.“ Auch ein ehemaliger Leiter des Literaturfestivals, der nun bei einem großen Verlag arbeitet und anonym bleiben will, sagte dem Tagesspiegel, dass er die Vorwürfe für falsch halte. Literatur könne man nicht nach demografischen Kriterien beurteilen.
Eine differenzierte Antwort findet Daniel Galera, dessen Roman „Flut“ zu den herausragenden Neuerscheinungen aus Brasilien gehört. Der 34-Jährige erläutert im Gespräch: „In Brasilien werden nur wenige schwarze Autoren veröffentlicht. Insofern ist die Liste repräsentativ für den Buchmarkt.“ Die eigentlichen Probleme, so Galera, seien soziale Ungleichheit und das katastrophale öffentliche Schulsystem. Sie führten dazu, dass die literarische Produktion sich in den reichen Zentren des Südostens konzentriere und von einer ethnisch wie sozial privilegierten Schicht ausgeübt werde.
"Brasiliens Schriftsteller sind weit weg von der Wirklichkeit"
Der 1961 geborene Reporter und Schriftsteller Fernando Molica ist radikaler. Von ihm stammt der ausgezeichnete, bei Nautilus erschienene Favelakrimi „Krieg in Mirandão“; weitere seiner Bücher wurden nicht ins Deutsche übersetzt, weshalb er keine Einladung nach Frankfurt erhielt. „Brasiliens Schriftsteller gehören fast alle zur oberen Mittelschicht. Sie sind weit weg von der Wirklichkeit und schreiben lieber über private Probleme und innere Befindlichkeiten als über die Straße. Sie haben Angst vor Schwarzen, Armen und Favelas.“ Es gebe aber eine Literatur des Marginalen in Brasilien. Sie erfahre bloß als Literatur keine Anerkennung, weil die Kritik so akademisch geworden sei.
Der für den Buchmessen-Gastlandauftritt verantwortliche Präsident der Brasilianischen Nationalbibliothek, Roberto Lessa, rechtfertigt die Liste. Es sei darum gegangen, die literarische Vielfalt Brasiliens zu zeigen – nicht als exotische, im Regionalen verankerte Kunst, sondern als Gegenwartsliteratur, die mit den wichtigsten Trends der internationalen Literatur verbunden sei.
Philipp Lichterbeck