Soundkunst: Angriff der Weltraumzwerge
So könnte die Apokalypse klingen: Scott Walker präsentiert in seinem gefeierten experimentellen Album „Bish Bosch“ Titel wie „SDSS 1416+13 B (Zercon, a Flagpole sitter)“. Wer das nicht versteht, kann acht Seiten mit Fußnoten nachlesen. Fantastisch, verrückt, unerhört ist seine Musik allemal.
Man konnte es ahnen, dass einem die neue Platte von Scott Walker mehr Rätsel aufgeben würde als sämtliche Folgen von David Lynchs „Twin Peak“ zusammen. Denn Überforderung der Hörer ist bei ihm Programm. Es gibt zwei Entwicklungskurven, die nur die Folgerung zulassen, dass die neue Platte von Scott Walker die extremste Hörerfahrung bereithalten muss seit, nun ja, der letzten Platte von Scott Walker.
In der einen Kurve entwickelt sich der Sänger vom gefeierten Teeniestar in den Sixties als Sänger der Walker Brothers („The Sun Ain’t Gonna Shine No More“) zum weltabgewandten Enigma, das seit den Achtzigern komplett verstörende Platten veröffentlicht. In der anderen Kurve lässt sich erkennen, dass der 69-jährige Scott Walker in jeder seiner Platten aus diesem sperrigen Spätwerk einer Überbietungslogik folgt und mit zunehmendem Alter immer noch düsterer und undurchdringlicher klingt. Den bisherigen Höhepunkt in seinem Streben, die Apokalypse musikalisch sinnvoll abzubilden, bildete sein Album „Drift“ aus dem Jahr 2006. Darüber befand der englische Musiker und Künstler Momus: „,Drift’ ist kein Popalbum, sondern ein Albtraum.“
Und jetzt also „Bish Bosch“, Walkers 14. Solowerk. Selbst wer schon alles gehört, Stockhausen verstanden und sich diese Platte mehrmals konzentriert erarbeitet hat, wird zugeben müssen, dass er es bis auf Weiteres nicht schaffen wird, jedem verschlungenen Pfad, den das Album aufzeigt, bis zum Ende zu folgen.
Da wären einmal die Texte, mit denen Walker die Arbeit an seinen Songs beginnt. Die Worte bilden immer das Grundgerüst für seine Musik. Schon bei „Drift“ ging es um Tod, Folter, Krankheiten, Diktatoren, den 11. September und Elvis, bei „Bish Bosch“ wird das Themenspektrum erweitert um krude Geschichten von braunen Weltraumzwergen, deren Abenteuer kein gutes Ende nehmen. Die Lyrics von Scott Walkers eigentümlich zu nennen, wäre eine Untertreibung.
Das Kernstück der 70 Minuten langen Platte trägt den Titel „SDSS 1416+13 B (Zercon, a Flagpole sitter)“. Der Text über die besagten Zwerge, der in diesem 20-minütigen Song vorgetragen wird, erstreckt sich im Booklet der CD auf acht Seiten – inklusive Fußnoten. Wer trotzdem nichts versteht, was ziemlich wahrscheinlich ist, hat vielleicht trotzdem seine Freude daran, Scott Walker Dinge singen zu hören wie: „Du bist so dick, wenn du einen einen gelben Regenmantel trägst, rufen die Leute ,Taxi’“.
Scott Walker ist Amerikaner, lebt aber seit seinen Erfolgen in England, was vielleicht seinen eigentümlichen Sinn für Humor erklärt. Der Plattentitel? „Bish Bosch“ soll laut Auskunft des Meisters Slang sein für „Bitch Bosch“ und mit Bosch ist Hieronymus Bosch gemeint, der Maler, der schon vor Scott Walker wusste, wie die Hölle aussieht. „Bish Bosch“ heißt also so viel wie „Hieronymus Bosch, du Schlampe.“ Sollten Die Ärzte jemals ein Scott-Walker-Tribut-Album initiieren, es sollte genau diesen Titel haben.
Es ist dieser Humor, der überall durchschimmert, der auch mal zotig ist und der dazu beiträgt, all das Grauen, das mit der unnachahmlich dramatischen Stimme Scott Walkers besungen wirkt, erst recht grotesk wirken zu lassen. Der Humor hat keine Entlastungsfunktion, sondern verstärkt noch das Gefühl der Verwirrung beim Hörer. Scott Walker beherrscht außerdem die Kunst, selbst Mario-Barth-artigen Scherzen wie den Fürzen, die man tatsächlich beim Song „Corps De Blah“ als sounddramaturgisches Mittel zu hören bekommt, noch etwas Geistreiches abzugewinnen. Fürze als Metapher für Seuchen, so jedenfalls könnte es gemeint sein.
Natürlich ist die grenzenlose Begeisterung für „Bish Bosch“, die die Kritiker vom „Guardian“ bis zum „Rolling Stone“ erfasst hat, stark vom Gesamtkunstwerk Scott Walker beeinflusst. Davon, dass da ein beinahe 70-jähriger Opa, der aussieht wie Mitte 40, so extrem klingt, dass dagegen auch die frühen Einstürzenden Neubauten wirken wie die Bee Gees.
Einst war Scott Walker ein Mädchenschwarm, fiel dann aber in Depressionen, trank zu viel, nahm Drogen und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Noch in den späten Sechzigern nahm er vier gefeierte Soloalben auf, um in den Siebzigern völlig abzustürzen. Er fand erst wieder zu sich, als er, angefangen mit dem Album „Climate Of The Hunter“ 1984, die Düsternis beschwor, die er wohl schon immer in sich gespürt hatte. Erst als er sich vom Licht abwandte, stellte sich so etwas wie Zufriedenheit ein. So entwickelte sich Walker zu dem Künstler, den Kollegen wie Nick Cave, David Bowie, Jarvis Cocker und Brian Eno bewundern.
Auch Justin Timberlake oder Robin Williams konnten sich nach Jahren als Teenidole künstlerisch beweisen, doch um es Scott Walker nachzumachen, müssten sie demnächst mindestens als Zwölftonkomponisten auffällig werden. Denn die Musik von „Bish Bosch“ ist nicht weniger verrückt-fantastisch als ihr textlicher Unter- und theoretischer Überbau. Wuchtige Soundblöcke aus Metalgitarren, Geräuschen, Streicher-Arrangementes, Dubstep-Andeutungen, Industrial-artigen Drummachine-Attacken und Lounge- Exotica werden aufgestellt. Darüber erhebt sich Scott Walkers raumgreifende Crooner-Stimme, die immer noch so klingt, als sei der Mann Mitte 20. Diese Stimme, die so unendlich schön ist und einen sofort in ihren Bann zieht, versucht paradoxerweise gegen ihre eigene Schönheit anzukämpfen. Anders lässt es sich nicht erklären, dass die offensichtlich von gregorianischen Chorgesängen inspirierten Phrasierungen Walkers enervierend wirken wie Soli eines Free-Jazz-Saxofonisten.
Dankbar muss man Scott Walker dafür sein, dass er wie nebenbei die nervigsten Popdebatten der letzten Jahre mit einem Schlag beendet. Das Album ist tot und im Zeitalter der „Retromania“ hören wir nur noch Aufgüsse von Bekanntem? „Bish Bosch“ kann man gar nicht gestückelt und ohne Booklet in der Hand hören. Und so eine Musik, nein, so eine Musik hat man wirklich noch nie gehört.
Scott Walker: „ Bish Bosch“ ist bei 4AD/Beggars erschienen.
Andreas Hartmann
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