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© Zeichnung: Watterson

Festival International de la Bande Dessinée d'Angoulême: Angoulême krönt Bill Watterson zum Comic-König

Der Schöpfer von „Calvin & Hobbes“ wurde bei Europas größtem Comicfestival für sein Lebenswerk geehrt - das stellt den scheuen US-Zeichner vor ein Dilemma.

Europas wichtigste Comicpreise sind im Rahmen der traditionellen Zeremonie im Theater von Angoulême am Sonntagnachmittag vergeben worden. Insgesamt zwölf Autoren von neun Comics sowie das Kollektiv einer Comic-Anthologie wurden in den neun Kategorien ausgezeichnet. Darüber hinaus wurde der Amerikaner Bill Watterson, Schöpfer von „Calvin & Hobbes“, mit dem Großen Preis von Angoulême für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Allerdings scheint es ein Leck in der Preisjury gegeben zu haben, denn der französische Comicautor Lewis Trondheim („Donjon“, „Lapinot“, „Kosmonauten der Zukunft“), der im Vorjahr mächtig gegen das Konzept des Festivals als Verkaufsmesse austeilte, verkündete schon eine zwanzig Minuten vor Bekanntgabe des Siegers, dass Bill Watterson als Träger des Großen Preises ein spektakuläres Festival im Jahr 2015 verspreche. Neben Bill Watterson standen der Brite Alan Moore sowie der Japaner Katsuhiro Otomo im Finale für den Großen Preis. Im vergangenen Jahr wurde der niederländische Zeichner Willem für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Er stand der diesjährigen Jury vor.

Die Ehre des Gewinners des Großen Preises von Angoulême, der nächsten Jury vorzusitzen, wird mehr und mehr zur belastenden Verpflichtung der Auszeichnung. Denn mit Bill Watterson soll nun ausgerechnet der publikumsscheue Vater der weltberühmten „Calvin & Hobbes“-Strips der nächsten Jury des kontaktfreudigen französischen Comicfestivals vorstehen. Ob er diese Funktion 2015 tatsächlich ausfüllen wird, wird wohl eines der Top-Themen der nächsten Monate in Comickreisen werden. Der nicht minder publikumsscheue Brite Alan Moore machte diesen Spekulationen schon am Tag vor der Preisverleihung ein Ende. Er gab gegenüber dem französischen Comicmagazin actuabd.fr bekannt, dass er, sollte man ihm den Preis zusprechen, diesen nicht annehmen würde. „Ich habe keine Lust, einen Preis mit derartigen Verpflichtungen anzunehmen. Ich reise nicht mehr und habe auch keinen Pass. Das meine ich nicht böse, aber mir reicht es, an meinen Projekten zu arbeiten“, erklärte er mit Bezug auf die Juryverpflichtung. Comicevents besucht der Brite schon eine Weile nicht mehr, selbst dann nicht, wenn es Preise gibt. Zur Verleihung des Max-und-Moritz-Preises für sein Lebenswerk 2008 in Erlangen reiste er beispielsweise gar nicht erst an.

Der französische Zeichner Alfred hat mit seinem Comic „Come Prima“ den Preis für das Beste Album gewonnen. Damit folgt er Christophe Blain und Abel Lanzac, die im vergangenen Jahr mit dem zweiten Teil von „Quai d’Orsay“ Europas wichtigsten Comicpreis gewonnen hatten. Alfred rekonstruiert in seinem neuen Comic anhand der Erinnerungen von Fabio und Giovanni das Porträt ihres Vaters, zu dessen Beerdigung sie gemeinsam unterwegs sind. Auf ihrem Roadtrip begeben sie sich nicht nur zurück in ihren Heimatort, sondern auch zurück in ihre Vergangenheit. Die Erinnerungen an die lauten und leisen Momente ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend werden zu Erweckungserlebnissen der beiden Brüder, die gezwungen sind, sich ihrer turbulenten Beziehung zu stellen. Mit „Come Prime“ hat der Franzose – der in Deutschland vor allem für seinen Comic „Warum ich Pater Pierre getötet habe“ (Carlsen Verlag) Begeisterung auslöste – ein sensibles und sentimentales Album vorgelegt, dass grafisch besticht und erzählerisch unter die Haut geht. Bei der Auszeichnung sagte der Zeichner, dass er sich diesen Erfolg nur mit dem Umstand erklären könne, dass „Come prima“ bei einigen Lesern etwas berühre, das tief in ihnen ruhe.

Comic-Regisseurin: Rutu Modan.
Comic-Regisseurin: Rutu Modan.
© Lars von Törne

Den Spezialpreis der Jury hat die israelische Comicautorin Rutu Modan für „Das Erbe“ (Carlsen Verlag) erhalten. Der Spezialpreis ist eine Art Silbermedaille, mit dem die Jury die besondere Aufmerksamkeit auf ein Werk lenken will, das in origineller Weise eine Geschichte erzählt. Der in Deutschland erschienene, hoch gelobte Comic erzählt von der Rückkehr einer älteren Dame, die – vor den Nazis aus Polen geflohen – in Warschau nicht nur ihren Anspruch auf eine Hinterlassenschaft erheben, sondern dabei auch ihre eigene Vergangenheit zurückerobern will. Rutu Modan erzählt in „Das Erbe“ eine mal traurige, mal heitere und immer berührende Geschichte von Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartsgestaltung.

In Angoulême wird traditionell ein Band ausgezeichnet, der das Kulturerbe der Neunten Kunst hochhält. In diesem Jahr gewannen die beiden Belgier Kamagurka und Herr Seele (Peter van Heirseele) mit ihren surrealistisch-absurden Episoden von „Cowboy Henk“ den renommierten „Klassiker-Preis“. Kamagurka kennen die deutschen Leser u.a. aus der Titanic, in der in regelmäßigen Abständen seine frechen Zeichnungen erscheinen. Einige seiner Arbeiten sind bei Edition Moderne und Lappan erschienen. Im vergangenen Jahr trug eine großformatige Neuauflage von George Herrimans „Krazy Kat“ aus dem Verlagshaus „Les rêveurs“ den Kulturerbe-Preis davon.

Mit dem Preis für die beste Serie wurde der zweite Band von Ted Stearns „Fuzz & Pluck“ ausgezeichnet, einem Comiczyklus, in dessen Mittelpunkt ein „gerupftes“ Huhn und ein schüchterner Teddybär stehen, die seltsame und gefährliche Abenteuer durchstehen. Die komische, surreale und berührende Serie (bislang fünf Bände) gehört zu den Favoriten von Chris Ware und David Mazucchelli. Wer „Fuzz & Pluck“ kennenlernen will, der muss zu den französischen Ausgaben oder dem amerikanischen Original greifen. Im vergangenen Jahr gewann der utopische Zyklus „Âama“ des Schweizers Frederik Peeters den Preis. Deren erster Teil (inzwischen auf drei Bände angewachsenen) erscheint im April bei Reprodukt.

Die eigene Jugend aufgearbeitet: Derf Backderf.
Die eigene Jugend aufgearbeitet: Derf Backderf.
© LArs von Törne

Eine kleine Überraschung gab es in diesem Jahr in der Kategorie Bester Newcomer. Mit „Das Buch Leviathan“ von Peter Blegvad und „Mein Freund Dahmer“ von Derf Backderf können sich zwei Zeichner mit ihren Verlagen über die Auszeichnung freuen. Während Peter Blegvad noch keinen deutschen Verleger gefunden hat, ist Derf Backderfs aus den Erinnerungen eines Mitschülers zusammengesetzte Biografie eines Serienmörders bereits erschienen (Metrolit Verlag). 2013 wurde Jon McNaught für sein Debütalbum „Automne“ ausgezeichnet.

Den Publikumspreis trug in diesem Jahr die Zeichnerin Chloé Cruchaudet für ihr Album „Mauvais Genre“ davon, einer aufsehenerregenden Geschichte, die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs mit den Themen Liebe und Identität spielt. Im Mittelpunkt stehen Paul und Louise, die kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs heiraten. Dann muss Paul an die Front, von der er desertiert. In Paris findet er Louise wieder, doch um zu überleben, muss er in die Haut einer anderen Person schlüpfen. Das Publikum stimmte damit in diesem Jahr für eine Geschichte, in der sich die Identitäten in den matten Tönen und weichen Zeichnungen zunehmend auflösen. 2013 überzeugte Marion Montaignes Album „Tu mourras moins bete“ das Publikum.

Als Bestes Alternativ-Comic wurde „Un Fanzine Carré numéro C“ aus der Schweiz ausgezeichnet. Wie ein Notizblockwürfel kommt diese Anthologie mit Beiträgen von 90 Autoren. Von allen sechs Seiten bietet dieser magische Comicwürfel eine andere Ansicht und einen anderen Zugang. Im Innenteil warten 90 neunseitige Beiträge, die sich aufeinander beziehen und doch für sich allein stehen. Zweifelsohne ist hier vor allem die experimentelle Form belohnt worden. Das ausgezeichnete Werk ist die dritte Erscheinung des in unregelmäßigen Abständen erscheinenden Fanzines, die nächste Ausgabe soll in drei Monaten in den Buchhandel kommen. Beim letzten Comicfestival hatten die Zwillingsbrüder Ed und Allessandro Totta mit ihrem Album „Dopututto Max“ den Alternativ-Comicpreis erhalten.

Den Besten Kriminal-Comic haben in diesem Jahr Rodguen und Wilfried Lupano mit „Ma Révérence“ vorgelegt. Das überraschte nicht nur den Szenaristen Lupano, denn in diesem Krimi gibt es weder Polizisten noch einen Mord. „Ma Révérence“ ist vielmehr eine klassische Räuberpistole, in deren Mittelpunkt der dreißigjährige Vincent und sein seltsamer Kompagnon Gaby Rakete stehen. Eine ebenso sympathische wie mitreißende Story zweier Freaks, die ihr Glück abseits der Legalität suchen. Im vergangenen Jahr setzte sich Anthony Pastor mit seinem pastelligen Album „Castilla Drive“durch.

Mit dem Preis Bestes Album für junge Leser wurden in diesem Jahr die „Tagebücher von Cerise“ des Autorenduos Joris Chamblain und Aurélie Neyret bedacht. Der zweite Band der mehrteiligen Erzählung von den Erlebnissen und Beobachtungen der elfjährigen skeptischen Titelheldin überzeugte die Kinderjury am meisten. Im vergangenen Jahr räumten Szenarist Patrick Sobral und Zeichner Nadou mit „Die Legendären – Ursprünge. 1. Danaël“, der Vorgeschichte der bislang auf 16 Bände angewachsenen Serie „Die Legendären“.

Lobend erwähnt wurde außerdem das Album „Lartigues et Prévert“ von Benjamin Adam.

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