Album-Kritik: Angekommen in der Komfortzone
R.E.M. haben in Berlin ihr 15. Studioalbum aufgenommen: „Collapse Into Now“
Viele Musiker haben in Berlin ihre besten Platten aufgenommen. R.E.M. gehören nicht dazu. Der Geist Berlins oder was immer das Trio in der Stadt zu finden hoffte, als es im Sommer für einige Wochen ihr Equipment im Meistersaal aufbaute, hat es nicht beflügelt. Sondern nur sentimental gemacht. So viel vorweg.
In den Hansa Tonstudios und ihrem mit Parkett und Holztäfelung großzügig ausgestatteten früheren Ballsaal unweit des Potsdamer Platzes waren schon David Bowie und Iggy Pop, U2 und Nick Cave zu Gast. Alle auf der Suche nach dem gewissen Berlin feeling. Das war in den Jahren zwischen 1977, als Bowie seine Mauerstadt-Trilogie einspielte, und 2008, als mit Snow Patrol eine junge Band des Britpop-Booms angereist war, freilich immer ein anderes. Ein von den Eskapaden als Thin White Duke erschöpfter Bowie fand hier die Freiheit, die er für eine Neudefinition seiner Rolle brauchte. U2 platzten 1991 für „Achtung Baby“ in die Nach-Wende-Euphorie, ließen sich mitreißen, das Resultat war rauer und energischer, als man es von der „größten Band der Welt“ hätte erwarten können, und für sie selbst ein Neuanfang.
Auch R.E.M. wollten sich inspirieren lassen von der Stadt. Sie reisten in ein „crash land“, wie es Sänger Michael Stipe nun in dem Song „Überlin“ ausdrückt. Dessen Vorzüge – „no illusions, no collision, no intrusion“ – führten bei ihm zu einer gewissen mentalen Lockerung. Stipe ging nach dem Frühstück im Berghain tanzen, warf Pillen ein; er liebte es, abends bei Freunden zu essen und Kunstgalerien zu besuchen. Da war er sich sicher wie selten zuvor, um was es ihm gehen würde. Um Klarheit und Transparenz. Die Dinge „sind, was sie sind“ – so lautet das Credo.
Das ist bei Michael Stipe nicht selbstverständlich. Lange hat er sich um Eindeutigkeit gedrückt und als Texter in lyrisch undurchsichtigen Bildern Zuflucht gesucht. Niemand verstand, wovon er in Hits wie „Losing My Religion“, „Everybody Hurts“ oder „Disturbance At The Heron House“ wirklich erzählte. Toll waren sie natürlich trotzdem. Es war das Ungefähre der Musik von R.E.M., das vier Burschen aus Athens, Georgia zum Inbegriff des intelligenten College-Rock machte und ihnen den Status von Indie- Gottheiten verschaffte. Schöner und anmutiger entzog sich selten eine Band den Zuschreibungen und kommerziellen Zwängen des Pop-Business. Dass populäre Musik immer einen Rest an Unkonkretheit behält, auch, damit möglichst viele Menschen sich mit ihr identifizieren können, wurde im R.E.M.-Universum zum Mysterium verklärt.
Auch auf „Collapse Into Now“, dem 15. Album der vor dreißig Jahren gegründeten Band, das seinen Titel angeblich einer Eingebung Patti Smiths verdankt, ist derselbe edle, ungreifbar-plierende Gitarrensound zu hören, dem R.E.M. ihren Ruf verdanken. Man würde sich vermutlich zu Tode erschrecken, wenn es mal anders käme. Wenn die Südstaatler plötzlich den Blues oder Rootsrock für sich entdecken würden, weil sie sich nach mehr Bodenhaftung sehnen. Doch auch diesmal gießen Peter Buck und Mike Mills als die beiden Songwriter des verbliebenen Trios ihre Ideen in vielfach erprobte Akkordmuster. Die Musik scheint sich ständig selbst zu zitieren. Das ist nicht verboten, aber auch nicht schön.
Darüber legt sich Stipes Gesang. Aber er wirft heute nicht mehr nur einfach Assoziationen zurück. Im Eröffnungsstück „Discoverer“, das sich Stipes Lieblingsthema der ewigen Entdeckungslust widmet, wartet er nicht erst ab, bis der Song harmonisch definiert ist, ein eigenartiger Effekt. Es wirkt, als könne der Sänger es nicht erwarten, die Lufthoheit in dem Geplänkel zu übernehmen und ihm eine Richtung zu geben, als ahne er, dass das Material der Kollegen in gediegener Langeweile erstarren werde.
Es sind nicht die eingängigen Melodien von „Überlin“, „Oh My Heart“ und „Every Day Is Yours To Win“, die das Album prägen. Es ist das Gefühl, all das schon etliche Male gehört zu haben. Besser und richtiger. Und nicht als Abgesang in eigener Sache, zu dem sich Stipe in den Zeilen aufschwingt: „I think / I’ll sing and rhyme / I’ll give it one more time / I’ll show the kids how to do it, / fine fine, fine.“ Hier, in dem Song „All The Best“, wird ein Abschied vollzogen, ohne dass darauf ein neuerlicher Aufbruch folgte.
R.E.M. haben sich aus dem üblichen Dreijahrestakt von Studioarbeit, Tournee und Auszeit ausgeklinkt. Eine Tour wird es nicht geben, die von 2008 war zu anstrengend, Stipe will sich das nicht erneut antun und vertieft sich in diverse Kunstprojekte. Längst wird der Rhythmus der Band von den zahllosen Nebenprojekten der Mitglieder bestimmt. Es ist nicht einfach, die 50-Jährigen, die über die USA verstreut in Athens, New York und Seattle leben, überhaupt an einem Ort zu versammeln. Im Sommer tat sich vermutlich nur das verabredete Zeitfenster auf, um sich für Aufnahmesessions in Berlin und New Orleans zu treffen. Gelegentlich schneiten Freunde wie Gitarrist Lenny Kaye, Patti Smith, Eddi Vedder oder Peaches herein. Was soll das noch?
Für das Vorgängeralbum „Accelerate“ hatte der Multi-Band-Gitarrist Peter Buck auf einen schnellen, spontanen Kreativitätsprozess gedrungen. Das Resultat war ein rockiges Aufbäumen gegen die eigene Verzettelung und Krise. Statt künstlerischen Skrupeln allzu viel Raum zu geben, brach sich das Bratz-Getöse eines entfesselten Starkstrominstrumentariums Bahn. Aber war das der Ausweg? Stipe hatte Mühe, sich gegen den Lärm zu behaupten.
Dass sein Organ nun auf „Collapse Into Now“ viel gelöster klingt, ist der moderaten Gangart geschuldet. Die liegt ihm, dem Dandy, näher. Aber es irritiert doch, ihn zuweilen hörbar abgekoppelt vom Rest der Band davon singen zu hören, dass Helden „fatale Verfehlungen“ begehen.
„Collapse Into Now“ erscheint am Freitag, 4.3., bei Warner
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