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Umhäkelte Erinnerung. Silvina Der-Meguerditchians Arbeit „Freundschaft“ von 2011 in der Ausstellung.
© Maxim Gorki/Harry Schnitger

Saisoneröffnung am Maxim Gorki Theater: Anders lieben, anders glauben

Das Maxim Gorki Theater eröffnet mit einer Gala und einer Ausstellung unter neuer Intendanz.

Es gab diesen Moment. Eröffnungsgala des Maxim Gorki-Theaters unter der neuen Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje. Parkett und Rang sind voll besetzt. Der Regierende, Intendanten, Journalisten, Freunde, Weggefährten, ganz normales Publikum. Auf der Bühne sitzt das neu zusammengewürfelte, vielfach sehr junge Gorki-Ensemble (mittendrin die wunderbare Ruth Reinecke, seit 1979 im Ensemble, fein lächelnd wie die weise Mutter vons Janze). Dahinter, erhöht, die 30 Künstler der Ausstellung „Herbstsalon“, mit der die Spielzeit noch nicht wirklich eröffnet, aber auf intelligente Weise das geschichtssatte Areal um das Theater bespielt und fragend in Beschlag genommen wird. Shermin Langhoff, die neue Intendantin, huscht in einem eleganten schwarzen und irgendwie asymmetrisch geschnittenen Kleid (Heterogenität!) hin und her und dirigiert zu letzten Plätzen. Dann soll es losgehen. Laut Ablaufzettel singt das Ensemble jetzt „Jäger Abschied“ von Mendelssohn-Bartholdy.

Aber es geht nicht los. Stattdessen macht sich eine seltsame, fast beklommene Stille breit, ein Zögern, das sich zu einer unangenehmen Spannung aufbaut – und nach wenigen Schrecksekunden in langanhaltendem Applaus und Jubel entlädt. Hier beklatschen sich aber nicht nur die Mitarbeiter und Freunde selbst dafür, dass nach kurzer, intensiver Zeit der Vorbereitung nun endlich der große Tag gekommen ist. Der Applaus kommt woanders her, die Spannung ist viel älter, jahrzehntealt, und die Erleichterung existenzieller – und das macht diesen Moment ergreifend und eine Spur unheimlich. An diesem Abend des 8. November ereignet sich im kleinen Maxim Gorki-Theater nichts weniger als eine historische Zäsur im deutschsprachigen Theater, und sie ist bei aller Ausgelassenheit jedem bewusst.

Shermin Langhoff, die 1969 als Sermin Özel in Bursa geboren wurde und mit neun Jahren nach Deutschland kam, ist die erste Intendantin mit türkischen Wurzeln an einem deutschen Stadttheater. Und die Schauspieler ihres Ensembles heißen eben nicht nur Mareike Beykirch, Marleen Lohse und Till Wonka, sondern eben auch Tamer Arslan, Anastasie Gubareva oder Sesede Terziyan. „Ein Wunsch“ ist in Erfüllung gegangen, sagt es später Carolin Emcke. Die, die „ein wenig anders“ heißen und „glauben und lieben“, diejenigen, die sonst am Rand stehen, sind in der Mitte angekommen. Dass dieser Vorgang nicht nur eine Frage von gesellschaftlicher Teilhabe ist, sondern auch ganz konkrete Auswirkungen auf der Bühne hat, das zeigen gleich die Gesangseinlagen zwischen den Reden. Wenn ein Chor aus Sängern und Schauspielern mit sogenanntem Migrationshintergrund nicht ironisierend, sondern ganz ernsthaft vom „Deutschen Wald“ oder Schuberts „An den Mond“ singt, öffnen sich natürlich andere Assoziationsräume, schwingen andere Welten mit, kommt einem das so vertraute anders und neu entgegen. Und natürlich sind die Fragen, die dabei aufgeworfen werden, andere, wenn dieser Chor nun nicht mehr im Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße, wo Shermin Langhoff das „postmigrantische Theater“ erfolgreich gemacht hat, sondern eben Unter den Linden steht. Es weht ein neuer anderer Wind.

„Anders“ ist überhaupt das Wort des Abends. Ein sichtlich erfreuter Klaus Wowereit beginnt mit: „Irgendetwas ist heute anders im Gorki.“ Bevor er Shermin Langhoff über den grünen Klee lobt (und sich dafür, sie in letzter Minute vor ihrem Weggang nach Wien in Berlin gehalten zu haben). Wowereit erinnert aber auch an die Anfänge des Hauses 1952 im Geiste des sozialistischen Realismus und an die legendäre Aufführung von Volker Brauns „Die Übergangsgesellschaft“ aus dem Jahr 1988, in der Regie von Thomas Langhoff. Lukas Langhoff, Sohn von Thomas und Ehemann der Intendantin, wird das Stück im Dezember an gleicher Stelle einrichten (Wowereit: „Viel Spaß bei dieser Familienaufstellung“.).

Es ist die blitzgescheite Carolin Emcke, die den Theatermachern bei aller Freude auch eine als Wunsch verkleidete Warnung mitgibt: „Denkt viel über Ähnlichkeiten nach.“ Und: „Identitäten sind Transportmittel, kein Zuhause.“ Vom Publikum wünscht sie sich: „Geben Sie dem Haus Zeit.“

In diesem Sinn ist es klug, dass das Haus nicht mit einer Inszenierung – die erste Premiere, Tschechows „Kirschgarten“ von Hausregisseur Nurkan Erpulat, läuft erst am 15.11. – sondern mit einer Raum- und Themenerkundung in der Ausstellung „Berliner Herbstsalon“ eröffnet wird. Dafür wurden 30 Künstler eingeladen, „sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart des Theaters“ und seiner unmittelbaren Nachbarschaft – Neue Wache und Palais am Festungsgraben – wie auch mit Fragen zu Nationalstaaten und Identität auseinanderzusetzen.

Die aus der Türkei stammende Nevin Aladag hat einen langen Läufer aus einem Fenster des Palais bis auf die Straße ausgerollt. Die einladende Geste einerseits, das Spiel mit den Dissonanzen zwischen neoklassizistischen Fassaden und orientalischem Ornament andererseits – es ist die auffälligste Arbeit, die viel vom neuen Geist erzählt. In eine ähnliche Richtung zielt auch die Soundinstallation von Azin Feizabadi. Fünf Mal am Tag, entsprechend den Zeiten des islamischen Gebetsrufes, lässt er Ausschnitte aus den Grundrechten der Deutschen Verfassung rezitieren. Angela Melitopoulos zeigt eine Videoinstallation über den sogenannten Autoput, die Straße, die Deutschland mit Griechenland und der Türkei verbindet, und Hakan Savas Mican im Gorki Studio eine Installation, die sich mit Atatürks Traum vom eigenen türkischen Auto beschäftigt und historische Videoaufzeichnungen mit nationalistischen Reden Erdogans von heute kontrastiert. In „Marxism today“ zeigt der britische Künstler Phil Collins eine schöne Dokumentation über eine ehemalige Lehrerin in der DDR, die nach dem Fall der Mauer eine Partnerschaftsvermittlung eröffnete und davon träumt, ihren Lebensabend mit einem noch zu findenden Freund auf Gran Canaria zu verbringen.

Schön wäre es auch gewesen, an der Performance „Familienalbum – wo warst du die letzten 100 Jahre“ von Hans-Werner Kroesinger teilzunehmen, bei der man sich mit einem Ensemblemitglied über seine und die eigene Vergangenheit austauscht. Aber die Schlange war zu lang und die aus dem Foyer herüberklingende Musik an diesem glücklichen Tag einfach zu gut.

Berliner Herbstsalon im Gorki, täglich bis zum 17.11., 10-20 Uhr, Eintritt frei

Andreas Schäfer

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