O'Nan-Roman "Emily, allein": Andere Welt
Stewart O’Nan erzählt in „Emily, allein“ vom Alltag einer alten Frau - und von ihrem Lebenswillen.
Die ganz gewöhnliche Katastrophe des Altwerdens scheint bisher nicht so recht literaturfähig gewesen zu sein. Die Rede ist nicht von jenen Büchern, die vom Nachlassen der sexuellen Potenz und den letzten virilen Zuckungen greiser Männer handeln, von Büchern, die ein Philip Roth oder ein Martin Walser in den letzten Jahren zuweilen zu schreiben pflegen. Sondern vom alltäglichen Unglück, in eine Phase des Lebens eingetreten zu sein, die wenig Spielraum für Illusionen lässt. Dass es an literarischen Texten über das ganz banale Altsein mangelt, verwundert indes nicht. Gesellschaften, deren Ideal von der ewigen Jugend einhergeht mit einer gleichzeitig enorm gesteigerten Lebenserwartung, mögen nicht zu gerne mit dem konfrontiert werden, was Alter in der Regel bedeutet: Einsamkeit, Demenz, Perspektivlosigkeit. Davon abgesehen sind die Sensationen des Alters eher bescheidener Natur – dramatische Heldengeschichten lassen sich da selten erzählen.
Umso bemerkenswerter ist der neue Roman des 1961 geborenen, amerikanischen Schriftstellers Stewart O’Nan, der seine 80-jährige, verwitwete Heldin Emily Maxwell ein einziges Abenteuer bestehen lässt: die gleichförmigen Tage zwischen der regelmäßigen Teilnahme an Seniorenbrunches und seltenen Familienbesuchen ohne allzu große Verzweiflung zu absolvieren. „Emily, allein“ ist in diesem Sinne ein ereignisloses Buch – und über weite Strecken passiert tatsächlich so wenig, dass man zuweilen geneigt ist, ein paar Seiten zu überblättern. Und doch schafft O’Nan eine erstaunliche atmosphärische Nähe zu seiner Figur. Emilys Radius, der immer weiter zusammenschrumpft, wird zu unserem eigenen.
Wir teilen ihre Ängste. Fürchten um ihren Hund Rufus, dessen Gesundheitszustand bedenklich ist. Erfahren von Todesfällen im stetig kleiner werdenden Freundeskreis, spüren die Einschläge näher rücken. Fahren zusammen mit Emilys kurzsichtiger Schwägerin Arlene in Schrittgeschwindigkeit durch die Straßen von Pittsburgh, durch eine Welt, die sich unversehens immer stärker ins Unbehagliche verkehrt, je weniger die Veränderungen noch mit dem eigenen Leben zu tun haben. Die Stadt geht einfach nach und nach verloren. Wir spüren die Würde von Emily, die Stewart O’Nan in einem zwischen Ironie und Melancholie oszillierenden Ton wahrt. Schweifen mit ihr ab in eine Vergangenheit, die keineswegs eine Idylle war, sondern immer schon ein „Kampf“; die aber zumindest noch eine Zukunft in sich barg. „Emily konnte die Bilder nicht verscheuchen, obwohl sie es gern getan hätte. Sie quälten sie wie eine Migräne, machten sie hilflos und unzufrieden, als wäre ihr eigenes Leben und das der Menschen, die sie geliebt hatte, im Sande verlaufen, nur weil jene Zeit vorbei war, weil sie sogar aus ihrem Gedächtnis schwand und von dieser tristen Gegenwart ersetzt wurde. Wenn es ihr wie eine andere Welt vorkam, dann deshalb, weil es so war, und all ihre Sehnsucht konnte diese Welt nicht zurückbringen.“
„Emily, allein" knüpft an Stewart O’Nans Roman „Abschied von Chautauqua“ an, der in den USA 2002 erschienen ist (auf Deutsch 2005) und ein Familientreffen schildert, das von alten Konflikten unterminiert wird. „Emily, allein“ ist ein Epilog zu diesem Roman, aber keine Elegie. Denn seine alternde Heldin vermag ihre Situation zwar sehr realistisch einzuschätzen. Sie ist keine Frau, die sich etwas vormacht. „Wie jeder Todesfall in ihrem Bekanntenkreis brachte auch dieser Emily ihrem eigenen Tod näher, als wären sie alle um einen Platz aufgerückt.“
Aber gleichwohl hält sie sich fest an jenen kleinen Angelpunkten ihres Lebens: den Routinen des Alltags, den Listen, die sie sich schreibt, den gewöhnlichen Verrichtungen, der klassischen Musik, die sie abends im Radio hört. Und sie ersehnt die Festtage, an denen sie ihre Kinder und Enkelkinder erwartet – wohl wissend, dass diese Begegnungen oftmals enttäuschend und problematisch sind, manchmal sogar im letzten Moment platzen können.
Es ist von einer großen Präzision, wie Stewart O’Nan die Einsamkeit dieser Figur aus deren Innerem heraus entwickelt, ihr Hoffen und Bangen in großer Beiläufigkeit herausschält, dem Charakter aber doch so viel Dezenz und Eigensinn zugesteht, dass wir niemals in Gefahr geraten, Mitleid mit Emily zu empfinden. Wenn man sich auf diesen Roman einlässt, hat das etwas merkwürdig Kontemplatives.
Stewart O’Nan, dessen Bücher kaum auf einen Nenner zu bringen sind, und der in seinen letzten Werken Handlung oder Spannungselemente immer weiter zurückgedrängt hat, betritt mit diesem Roman tatsächlich Neuland. Kaum jemand hat die Ödnis des Alltags, das Nachlassen der Kräfte und den gleichzeitigen Lebenswillen eines alten Menschen mit solcher Klarheit und solchem Gleichmut beschrieben. Wem das zu wenig ist, wem es auch nicht genug tragische Wucht hat, der sollte lieber das Alterswerk von John Updike oder Louis Begley lesen.
Stewart O'Nan: Emily, allein. Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Rowohlt,
Reinbek 2012.
384 Seiten. 19,95 €.
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