Regener-Roman "Herr Lehmann": An der Mauer, auf der Lauer
Als am 9. November 1989 die Mauer aufging in Berlin, da gab es nur zwei bedeutsame gesellschaftliche Gruppen, die aus gutem Grund nicht einstimmten in den kollektiven Jubel.
Als am 9. November 1989 die Mauer aufging in Berlin, da gab es nur zwei bedeutsame gesellschaftliche Gruppen, die aus gutem Grund nicht einstimmten in den kollektiven Jubel. Die im Osten ganz Mächtigen mussten befürchten, dass ihnen im neuen Deutschland bald das Fell über die Ohren gezogen würde - und darüber litten sie lieber erst mal leise. In lautes Wehklagen dagegen brachen im Westen die Kreuzberger aus, genauer die Bewohner des Biotops namens SO 36.
Das gemütlich versumpfte, bunte Reservat aus schwäbischen Bundeswehrflüchtlingen, längst befriedeten Hausbesetzern, Öko-Fuzzis und Bohémiens, das von kleinen Jobs, Projekten oder auch von der Stütze im guten, alten, billigen West-Berlin nicht schlecht lebte, empfand die Eindringlinge aus dem Osten als hässliche, graue Masse Mensch: als Plattläufer und bald auch Plattmacher eines begrünt ummauerten Lebensraums und Lebenstraums, den man in zwei mühevollen Jahrzehnten - vom Häuserkampf bis zur grimmig hingenommenen Touri-Gaffer-Attraktion - dem Rest der Welt abgerungen hatte.
Frank Lehmann, der am 9. November 1989 seinen 30. Geburtstag feiert ist einer von ihnen: Sven Regeners liebevoll und berückend lebensecht erfundener Romanheld, lebt zwar erst seit neun Jahren in SO 36, fühlt sich aber als Ur-Kreuzberger. Im "Einfall", wo er hinter dem Tresen Dienst tut, und auch in all den anderen Kneipen, deren Belegschaft und Stammgäste Franks ausschließliches Soziotop darstellen, nennen sie ihn seit einer Weile nur noch "Herr Lehmann"; das ärgert ihn, weil es in Kombination mit dem allseitigen Duzen heftig nach Drospa-Kassenjargon tönt, aber etwas weiter innen findet er das auch gerecht. Denn er fühlt sich steinalt in den Wochen und Monaten, die seinem Geburtstag vorangehen und die den biografischen und zeitgeschichtlichen Rahmen des Romans bilden.
Schluss mit lustig
Er fühlt dieses Alter mit der ganzen Wucht des jungen Menschen: nicht als etwas, das ihm Endlichkeit anzeigt, sondern als schauerliches Vorzeichen, dass dieses Leben fortan immer so weiter gehen könnte, ein Leben mit den immergleichen Leuten und auch zwischenzeitlich mal ziemlich allein, ein Leben zwischen Bett und Kneipe und Bett, ein Leben von Kreuzberg über Kreuzberg nach Kreuzberg.
Den Geburtstag hat Herr Lehmann, geborener Frank, überwiegend in Fürsorge um seinen "besten Freund Karl" verbracht, seinen zumindest besten Kumpel unter den Ausschank-Kollegen: Vor lauter Suff und Schlaflosigkeit und Nervosität um eine bevorstehende Ausstellung mit eigener Metallschrott-Kunst ist Karl zusammengebrochen, und Lehmann übernimmt es, den binnen kurzem völlig Verwahrlosten und wirr Daherredenden ins Urban-Krankenhaus zu bringen. Was würde, fragt er sich, ohne Karl werden, "denn Karl war immer die sichere Bank gewesen, auf die man sich verlassen konnte, wo Karl war, war der Spaß gewesen, und Spaß hatten sie immer gehabt, und solange man den Spaß hatte, dachte Herr Lehmann, ist alles gut"? Und, aber diese Frage wagt er sich nicht zu stellen, würde vielleicht auch er selbst eines baldigen Tages so sein wie Karl? Am Abend des 9. November dann ist der Spaß erst einmal ganz vorbei. Lehmann säuft sich durch die Kreuzberger Kneipengemeinde, und irgendwann steckt ihnen einer am Tresen, die Mauer sei offen. "Ach du Scheiße", lallt Lehmann, und sein Kumpel echot: "Ach du Scheiße."
Bei diesem ebenso banalen wie weltbewegten Befund bleibt der Roman praktisch stehen, und das ist schon mal genial. Denn was danach kam, wissen wir noch ziemlich genau, was davor aber war, haben wir einigermaßen gründlich vergessen. Deshalb wirkt zwölf Jahre später der Blick zurück wieder spannend - und Sven Regeners Blick, so frech wie frisch wie forschend, macht die Zeitreise zu einem mal zwerchfellerschütternden, mal melancholischen, immer aber anstrengungslos erkenntnisfördernden Vergnügen. So kann nur einer schreiben, der dieses versunkene Universum von innen erlebt wie Regener, Sänger und Texter von Element of Crime: bewusst verschwafelt dort, wo es an die inneren und äußeren, meist spätnächtlichen Monologe der abgestandenen Eckensteher geht, knapp und scharf dagegen, wo sie sich im Dialog mit der Wirklichkeit behaupten müssen; mal brüllkomisch in der gesammelten Lächerlichkeit einer Situation, mal aus dem gleichen Grund - fast - zum Weinen; immer aber zärtlich und voller (Selbst-)Ironie.
Von Kopf bis Fuß SO 36
Natürlich hat dieser Frank Lehmann, ein Oblomow unserer Tage, der sich vor lauter durch Nichtstun beförderter Dauererschöpfung meist nur noch "hinlegen" will, beste Voraussetzungen zur Witzfigur. Und es ist auch eine unleugbare Lust auf Comedy, die diesen Roman, ein verblüffend rundes Debüt, grundiert: Lehmanns Welt ist SO 36 und sonst gar nichts. Nach Süden überschreitet er die Grenze nur alle paar Jahre zwecks Badehosenkaufs bei Karstadt am Hermannplatz, südwestlich liegt der belächelte Kreuzberger Ortsteil 61, ganz westlich gilt Lehmann ein Gebilde wie Charlottenburg bereits als "sehr, sehr weit". Zum Glück gibt es im Norden und Osten die Mauer - so verlässlich wie ansonsten nur noch die gemeinsame Verachtung aller Tresenkumpels für Fassbier, Schultheiss und Kristallweizen.
In solch enger Welt haben, aber das schreibt Regener nur zwischen den Zeilen, Erfahrungen keine Chance. Und wenn sie einem denn doch zu unterlaufen drohen, versäumt man sie gleich wieder - so wie Lehmann eine kleine Liebe zufällt und gleich wieder verliert. Aus ein, zwei Kneipenschlägereien, in die er hineingerät, kommtLehmann als kurioser Held heraus; innere Erschütterungen aberbewältigt er nicht mehr. Bis er das vollends Morsche in sich denn doch zu spüren beginnt, nicht so hyperbewusst wie Ingeborg Bachmanns legendärer Held im "Dreißigsten Jahr", sondern sehr langsam, aus einer ungeheuren Dumpfheit heraus. Das Tageslicht der Erkenntnis, an das Lehmann da kriecht, wird, man ahnt es, auch etwas mit der neuartig anstrengenden Zeit nach dem 9. November zu tun haben.
So gesehen, könnte Regener da aus dem Stand der immer wieder herbeibeschworene große deutsche Wenderoman gelungen sein - wenn das nur nicht gleich wieder viel zu bombastisch klänge. Es ist der räumliche und zeitliche Mikrokosmos, der dieses Buch stark macht, und ein lakonischer Geist, der sein sehr komisches, sehr tragisches, immer aber fragiles Personal niemals denunziert. Regeners Sprache ist leicht, aber niemals leichthin, und die Lektüre, von ein paar kurzen Längen abgesehen, ein Genuss. Darauf ein Becks, aus der Flasche natürlich.
- bbbbbb
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