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Kultur: Am Nullpunkt des Lebens

Den Kummer ins Schreiben einbauen: Roland Barthes’ „Tagebuch der Trauer“

Als der französische Semiologe Roland Barthes 1980 im Alter von 65 Jahren starb, war er nach Sartre und neben Foucault eine intellektuelle Zelebrität mit öffentlicher Massenwirkung. Diesen Typus des Denkers gibt es nicht mehr. Heute kommt es für die Star-Intellektuellen nicht mehr darauf an, über welche Ideen sie Bücher schreiben, sondern welche Meinungen sie im Fernsehen sagen.

Barthes indes war ein öffentlicher Denker, der ohne die Schrift, ohne den Text nicht vorstellbar ist. Selbst der Körper und dessen Lust, die er so eloquent zu beschreiben wusste, figurieren als Textgestalten, etwa in „Die Lust am Text“ oder in „Fragmente einer Sprache der Liebe“, ein Werk, das in den frühen achtziger Jahren an den Unis als Schwarzdruck vertrieben wurde, sicheres Zeichen für ein Kultbuch.

Wollte man Barthes intellektuelle Lebenslinie zu einem Spannungsbogen formen, müsste man sein erstes Werk, „Am Nullpunkt der Literatur“ von 1954, mit seinem letzten zusammenbiegen: „Die helle Kammer“ von 1980. In diesem Buch über die Fotografie taucht, überraschend, das Wort „Nullpunkt“ wieder auf, dieses Mal jedoch nicht im Zusammenhang mit der Literatur und der historischen Abfolge von Schreibweisen, sondern in Verbindung mit dem Körper: „Nie findet mein Körper seinen Nullpunkt, niemand kann ihm diesen geben (vielleicht nur meine Mutter? ...“

Das von mir in der Klammer unterbrochene Zitat nennt die Instanz, ohne die zu leben Barthes erst lernen musste, als er selbst bereits zu altern begann. Seit seiner Kindheit hatte er die Wohnung mit seiner Mutter geteilt, abgesehen von etlichen Jahren in Lungensanatorien. Als sie 1977 starb, konnte er sich gegen seine Trauer nur schreibend wehren. Die auf Zetteln und Karteikarten hinterlassenen Notizen sind jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Tagebuch der Trauer“ erschienen. Diese Notizen sind oft anrührend, oft schmerzvoll und manchmal banal, wie es nun mal ist bei einem Menschen, der gerade einen anderen geliebten Menschen verloren hat. Ironischerweise lebt diese Veröffentlichung von einer Idee, die Barthes in seinen strukturalistischen Schriften als eine fixe angegriffen und verspottet hat: die Idee des Autors. Gäbe es nicht das Label „Barthes“, und könnte der Verlag das Buch nicht mit dem Versprechen auf den Markt bringen, „hinter“ dem Text käme der Mensch Roland zum Vorschein, würde sich kaum jemand für diese Aufzeichnungen interessieren. So hat der „Autor“ auf dem Markt den überlebt, der seinen Tod im Text verkündete.

Immer wieder geht es in den Trauernotizen um den Wunsch, ausgehend von einer Fotografie der Mutter in einem Wintergarten, ein Buch über sie zu schreiben. 23. März 1978: „Seit Wochen habe ich das (immer wieder bestätigte) Verlangen mich an das Buch über die Fotographie zu setzen, das heißt, meinen Kummer in ein Schreiben einzubauen.“ In dieser Epoche der Trauer, die Barthes in der Nachfolge Dantes mit einem „Vita nuova“-Projekt markiert und stilisiert, hält er am Collège de France Vorlesungen über „Die Vorbereitung des Romans“, den er als Projekt eines „Neuen Lebens“ zwar konzipiert, aber nie geschrieben hat. Darin spricht er sich erneut über das Schreiben aus – vor allem darüber, was es im Leben und für das Leben bedeutet.

Und in „Die helle Kammer“ schreibt er über die Mutter (und über sich): „Nun, da sie tot war, hatte ich keinerlei Grund mehr, mich dem Gang des Höheren Lebens (der Gattung) anzupassen. Meine Singularität würde sich nie mehr ins Allgemeine wenden können (es sei denn, utopisch, durch das Schreiben, das Projekt, das seitdem zum alleinigen Zweck meines Lebens werden sollte.) Ich konnte nur noch auf meinen vollständigen, undialektischen Tod warten. Das war es, was ich in der Fotographie aus dem Wintergarten las.“ Das Buch über die verletzende Erschütterung, die das Foto eines Verstorbenen in denen auslösen kann, die nach dem Tod des geliebten Menschen weiterleben (müssen), wurde im Juni 1979 abgeschlossen.

Ein Jahr zuvor notierte Barthes spürbar genervt auf einer der Karten, aus denen das „Tagebuch der Trauer“ besteht: „Eine Frau, die ich nicht kenne und die ich treffen muss, ruft mich unnötigerweise an (stört mich, nimmt mich in Beschlag), um mir zu sagen: Steigen Sie an dieser Haltestelle aus dem Bus, geben Sie acht, wenn Sie die Straße überqueren.“ Im Februar 1980 wurde er beim Überqueren einer Straße vor dem Collège de France von einem Lieferwagen erfasst und schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, wo er vier Wochen später starb.

Die Nachwirkung seiner Texte ist dauerhaft. Am wenigstens gilt das wohl für sein definitorisch strenges „Elemente der Semiologie“ und seine (auch den Leser) erschöpfende „strukturale Lektüre" einer Erzählung Balzacs. Den ausdauerndsten Einfluss behalten wohl seine Schriften über die „Mythen des Alltags“ und „Die Sprache der Mode“. Aber in allen Werken geht es um die Frage, wie Sinn strukturiert, fabriziert, tatsächlich Wort um Wort, Satz für Satz gemacht wird, bevor der Tod den Schlusspunkt setzt.

Roland Barthes: Tagebuch der Trauer. Texterstellung und Anmerkungen von Natalie Léger. Aus dem Französischen von Horst Brühmann.

Hanser, München 2010. 271 S., 21,50 €.

Bruno Preisendörfer

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