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Zerfurcht. Zerquält. Würdevoll. Ilja Repins Sozialstudie „Die Wolgatreidler“ von 1870-73 ist das berühmteste Bild in den Kunstsammlungen Chemnitz.
© Staatl. Russ. Museum, St. Petersburg

Bildende Kunst: Am Herzstrom Russlands

Die „Wanderer“ malten um 1900 Not und Schönheit ihres Landes. Jetzt sind die Werke der Künstlergruppe in Chemnitz zu sehen.

Flach ducken sich die Bauernhäuser in eine Bodensenke hinein. Nur die strohgedeckten Dächer ragen über die Ackerflächen hinaus. Ein Bauer geht hinterm Ochsenpflug. Der Horizont ist eben. In der Ferne ist ein Kirchturm auszumachen, er wird gemauert sein und weiß verputzt.

„Rodina“ heißt das Gemälde von Apollinari Wasnezow: „Heimat“. Es ist das Bild Russlands. Ein Bild bäuerlicher Verwurzelung, der Inbegriff dessen, was die Künstler der „Gesellschaft für künstlerische Wanderausstellungen“ propagierten. „Peredwischniki“ wurden sie genannt, „Wanderer“, dabei haben sie nur ihre Bilder auf Wanderschaft geschickt, um dem russischen Publikum ein Bild seiner selbst zu geben. Seit dem späten 19. Jahrhunderts, als die 1870 zum Verein zusammengeschlossenen Peredwischniki das russische Kunstleben dominierten, gehören die Gemälde zum nationalen Erbe und werden entsprechend verehrt bis heute. Jetzt sind die Bilder erneut auf Wanderschaft gegangen, in die Kunstsammlungen Chemnitz, die damit unter dem erfolgreichen Direktorat von Ingrid Mössinger erneut in den Fokus der Kunstwelt rücken. Das Informationsmaterial wurde zweisprachig abgefasst, deutsch und russisch, es leben schließlich viele Russen in Deutschland. Sie sind zumeist Angehörige jenes gebildeten Bürgertums, das die Werke der „Wanderer“ bewunderte und nach Möglichkeit sammelte, so wie Pawel Tratjakow, der Moskauer Kaufmann, der Moskau 1893 das nach ihm benannte Museum schenkte. Tretjakow lehnte ein ihm daraufhin angebotenes Adelsprädikat ab – er sei „als Kaufmann geboren und wolle als Kaufmann sterben“, wie er Zar Alexander III. höflich ausrichten ließ.

90 Gemälde haben die beiden Hauptleihgeber, die Moskauer Tretjakow-Galerie und das Staatliche Russische Museum in St. Petersburg, auf die Reise geschickt, und es sind wahre Nationalikonen darunter. Allein das lohnt die Fahrt nach Chemnitz. Zugleich aber ist ein Kapitel der europäischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts zu sehen, das in unserer Vorstellung dieser Zeit fehlt und sich doch exakt in die Grundströmung der Epoche einfügt. Es genügt ein Blick auf die Dramen Tschechows oder die Musik Tschaikowskys, um zu erkennen, wie nah uns die Kulturblüte jener Zeit ist.

Freilich gibt es nationale Besonderheiten, und es war ja gerade das Anliegen der „Wanderer“, das Eigentümliche des russischen Lebens, von Land und Leuten und russischer Geschichte, herauszuarbeiten und zu verbildlichen. Es begann mit „harmlosen Landschaften“, wie der begleitende Katalog wissen lässt, der alle Leihgaben ganzseitig abbildet. Als ob nicht auch in Landschaften Sprengkraft stecken könnte! Und sei es „nur“ als Gegenbild eines unverdorbenen, urrussischen Lebens gegen die höfische Gesellschaft in St. Petersburg. Es blieb ohnehin nicht bei Landschaftsdarstellungen. Denn, so der Historiker David Jackson: „Am häufigsten beschäftigen sich die Peredwischniki mit den Auswirkungen der Moderne auf das ländliche Leben.“

Leider fehlt im Katalog eine allgemeine Darstellung von Politik und Gesellschaft der späten Zarenzeit. So treten Ereignisse wie die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und wenig später die Einrichtung der bäuerlichen Selbstverwaltung ebenso wenig als historische Wegmarken hervor wie die krisenhaften Zuspitzungen, die Ermordung gerade des Reform-Zaren Alexander II. 1881 oder der „Petersburger Blutsonntag“ von 1905. Erst vor diesem Hintergrund sowohl einer zum Umbruch drängenden städtischen Gesellschaft als auch eines rückständigen Bauerntums entfalten Gemälde von Verurteilten, Verbannten oder unverhofften Heimkehrern, die bemerkenswerterweise zu den gängigen Sujets zählen, ihre ganze Bedeutung.

Es liegt aus heutiger Sicht nahe, in den Genredarstellungen der „Wanderer“ das kritische Element zu betonen. Wenn etwa Wladimir Makowski 1889 das städtische „Nachtasyl“ malt, liegt Maxim Gorkis Theaterstück von 1901 nicht fern. Doch die Predwischniki bleiben Beobachter, wenn sie sich engagieren, dann auf der moralischen Ebene, die ihnen Leo Tolstoi vorführt. Tolstoi (1828–1910) ist die geistige Autorität des späten Zarenregimes, das seinen Nimbus der gottgegebenen Autokratie einbüßt und sich im verwestlichten St. Petersburg verschanzt.

Die „Wanderer“ meiden denn auch höfische Szenen, obgleich sie meist Absolventen der kaiserlichen Akademie der Hauptstadt sind oder gar dorthin berufen wurden. So haben Maler wie der in Russland höchst geschätzte Ilja Repin (1844–1930) zugleich für den Adel wie für das wohlhabende Bürgertum gearbeitet – um am Ende als künstlerisches Vorbild für die sowjetische Propagandamalerei der Stalinzeit zu dienen. Repin nebenbei war, anders als Maxim Gorki, klug genug, die ihm 1926 angetragene Rückkehr nach Petersburg/Leningrad abzulehnen, nachdem sein Landsitz im nunmehr unabhängigen Finnland lag.

Repin war 1871 bis 1891 Mitglied der Gesellschaft für Wanderausstellungen, von 1894 bis 1907 hingegen Professor für Historienmalerei an der Akademie – bezeichnend für die wechselseitige Überlagerung von Konvention und Aufbruch um die Jahrhundertwende. Von seiner Hand stammt das berühmteste Gemälde dieser Ausstellung: „Die Wolgatreidler“ von 1870-73. Unvorstellbar hart ist die Arbeit dieser Menschen, die Schiffe mit bloßem Körpereinsatz den Herzstrom Russlands hinaufziehen müssen. Bettelarm, wie sie sind, schuften sie für das nackte Überleben. Und doch malt Repin keine soziale Anklage, sondern betont die unverlierbare Würde, die in jedem menschlichen Wesen liegt und in jedem Gesicht, wie zerfurcht und zerquält auch immer, zum Vorschein kommt. Bezeichnenderweise hingen die „Wolgatreidler“ im Palais des Großfürsten Wladimir und kamen erst infolge der Enteignungen durch die Bolschewiki 1918 ins Museum.

Auch Sergej Iwanows „Tod eines Umsiedlers“ von 1889 ist keine Anklage. Die Massenumsiedlung landloser Bauern aus den zentralen Gouvernements des Reiches nach Osten, nach Sibirien, endete für zahllose Vertriebene in der Katastrophe, so wie für den in der baumlosen Steppe unter sengender Sonne verendeten Bauern, den Frau und Kind betrauern. Dass Iwanow hier einen individuellen Ausdruck findet für das Schicksal, das vierzig Jahre später Millionen russischer Bauern durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft widerfährt, ist die beklemmende Perspektive von heute.

Und doch ging es den „Wanderern“ nicht um Anklage, Kritik oder gar Umsturz. Im Gegenteil, sie fanden sich an der Seite der kulturpolitischen Konservativen in der Gegnerschaft zur Moderne des Jugendstils um die Zeitschrift „Mir Iskusstva“ (Welt der Kunst). Es ging ihnen um ein psychologisch geschärftes Bild ihres Landes und ihrer Landsleute.

Und es ging ihnen um die Schönheit der alltäglichen Wirklichkeit, wie in dem bezaubernden Kleinformat von Wassili Polenow, „Moskauer Hinterhof“ von 1877. Es ist eine ganz ländliche Szene, wie man sie damals sogar im Zentrum Moskaus finden konnte, mit einstöckigen Häusern und Schuppen, einer Wiese mit blank getretenen Fußwegen, einer überkuppelten Kirche und einem Glockenturm wie jenem in Kolomenskoje, der hoch über der Moskwa leuchtet. Ein Bild pastoralen Friedens.

Tolstois moralisierende Schrift „Was sollen wir denn tun?“ von 1886 konterte Lenin 16 Jahre später mit „Was tun?“, seinem Programm für die bolschewistische Revolution. Die überstanden die Peredwischniki; sie stellten noch bis 1923 aus. Doch blieben sie aktuell, was die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung anlangt, und überlebten alle Späteren. Weil sie in ihren Bildern die russische Seele zum Klingen brachten, oder jedenfalls die Idee eines ewigen Russland, wie sie gerade heute wieder beschworen wird.

Kunstsammlungen Chemnitz, Museum am Theaterplatz, bis 28. Mai. Katalog 30 €. www.kunstsammlungen-chemnitz.de

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