20. Filmfestival von Sarajevo: Alte Schüsse, neue Küsse
Im Wettbewerb des 20. Filmfestivals von Sarajevo dominierten sozialrealistische und intime Dramen. Der türkische Beitrag „Songs of My Mother“ von Erol Mintas gewann und Jasmila Žbanić zeigte ihre erste Komödie.
„Vor der Todesfahrt“ steht in deutscher Handschrift auf der Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigt den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie am 28. Juni 1914 beim Verlassen der Vijećnica, des Rathauses von Sarajevo. Spalier stehende Männer grüßen das Paar auf dem Weg zum Auto. Das Foto ist Teil einer Ausstellung im Foyer der Vijećnica, die nach Jahren als Baustelle im Frühling endlich wiedereröffnet wurde. Gelb und rostrot gestreift leuchtet die Fassade des 1895 vollendeten neo-maurischen Baus, der in der Nacht vom 25. auf den 26. August 1992 von serbischen Truppen in Brand geschossen wurde. Das Feuer vernichtete rund zwei Millionen Bücher und Dokumente der hier untergebrachten Nationalbibliothek. Die verbrannten Fetzen schwebten wie Trauerschnee durch die Straßen der Stadt, der noch drei weitere Belagerungsjahre bevorstanden.
Die Vijećnica liegt am Ufer der Miljacka. Flussabwärts sind es nicht mal fünf Gehminuten zu der Stelle, an der Gavrilo Princip die tödlichen Schüsse auf das österreichische Paar abgab. In dem Haus, vor dem der junge Serbe sich postiert hatte, befindet sich heute ein Museum zur österreichisch-ungarischen Periode in Bosnien und Herzegowina. Diesen Sommer tummeln sich besonders viele Touristen an dieser „Straßenecke, an der das 20. Jahrhundert begann“ wie ein riesiges Transparent mit den Konterfeis von Attentäter und Thronfolger verkündet.
Die gegenüberliegende Brücke heißt eigentlich Latinerbrücke, öfter hört man jedoch Principbrücke. Ihre Schlaglöcher sind zum Weltkriegsjubiläum geflickt worden, an den Streben des niedrigen Geländers bekunden Paare mit wuchtigen Schlössern ihre Liebe. Wie alle Brücken hier ist die Principbrücke klein, denn die Miljacka ist ein schmaler Fluss. Nach Regenfällen schwillt er zwar rotbraun an, doch von den Fluten, die im Frühjahr weite Teile Ex-Jugoslawiens verwüsteten, ist die Stadt verschont geblieben.
Glamour-Zentrale des Balkans: Filmfestival von Sarajevo
Geht man die Miljacka noch weiter hinunter, erreicht man das Nationaltheater. Es wendet dem Flüsschen seine schäbige Rückseite zu. Auf der mit Lichterketten geschmückten Front befindet sich jeden Sommer die Glamour-Zentrale des Balkans: der rote Teppich des Filmfestivals von Sarajevo. Angelina Jolie und Brad Pitt sind hier schon entlanggelaufen, auch Morgan Freeman, Gérard Depardieu, Charlotte Rampling und Michael Fassbender. Zum 20. Jubiläum hat sich Hollywood zurückgehalten, dafür ist Gael García Bernal gekommen, dem das Ehren-Herz von Sarajevo verliehen wird. Auch Berlinale-Chef Dieter Kosslick und Regisseur Mike Leigh gehören zu den erneut eingeladenen Herz-Königen. Hinzu kommt viel regionale Prominenz, denn der Schwerpunkt liegt auf Südost-Europa.
Im Nationaltheater gibt es eine Art Wiedersehen mit Franz Ferdinand und Gavrilo Princip: Der Eröffnungsfilm „The Bridges of Sarajevo“ – eine Kompilation von 13 Kurzfilmen aus sechs europäischen Ländern – beginnt mit einem vom Attentat inspirierten Szenario des bulgarischen Regisseurs Kamen Kalev. Ein deutsch sprechender Würdenträger (Samuel Finzi) wird im Bad vor einem Anschlag gewarnt. Er will sich nicht verstecken und fährt mit seiner Frau im offenen Wagen durch die Straßen. Die Berlinerin Angela Schanelec und der Belgrader Vladimir Perišić lassen Teenager Texte von Princip und dessen Gesinnungsgenossen lesen: eine Mischung aus Verfremdungs- und Erhellungseffekt, denn die Verschwörer waren ebenfalls noch sehr jung.
Die jugoslawische Zerfallskriege spielen stets eine Rolle
Stärker als die Text-Bild-Collagen von Jean-Luc Godard und der in Sarajevo geborenen Regisseurin Aida Begić beeindrucken die Versuche, sich der Stadt zu nähern. Vor allem Ursula Meiers „Quiet Mujo“: Beim Fußballspielen schießt der zehnjährige Mujo einen Elfmeter weit über das Tor – auf den nahe gelegenen Friedhof. Erst sucht er in der kroatischen Sektion nach dem Ball, dann zwischen den weißen Grabsteinen der muslimischen Sektion, wo er einer Frau begegnet. „Such mal da drüben zwischen meinem Bruder und meiner Schwägerin“, rät sie Mujo. Die beiden sind während der Belagerung gestorben.
Die jugoslawischen Zerfallskriege und ihre Folgen spielen stets eine Rolle. Etwa als Hintergrund von Andrea Štakas starkem Wettbewerbsbeitrag „Cure – The Life of Another“, der im bereits befreiten Dubrovnik des Jahres 1993 spielt. Einige Kilometer entfernt wird noch hörbar gekämpft. Die 14-jährige Linda (Sylvie Marinković) kommt aus der Schweiz zurück, wo ihr Vater (Leon Lučev) als Arzt arbeitet. Ihre neue Schulfreundin Eta (Lucia Radulović) nimmt sie eines Tages mit in den Wald. Es kommt zum Streit, Eta stürzt die Klippen hinab und stirbt. Doch für Linda bleibt sie präsent: Sie kann die Tote sehen und hören. Halb willentlich, halb von Etas Mutter und Großmutter (grandios finster: Mirjana Karanović) gedrängt, übernimmt Linda die Rolle der Freundin. Frisur, Kleid, Ohrringe – eine unheimliche Anverwandlung beginnt.
Im archaischen Patriarchat: "Three Windows and a Hanging"
Zeigt Štaka eine nahezu männerlose Gesellschaft, ist „Three Windows and a Hanging“ von Isa Qosja mitten im archaischen Patriarchat angesiedelt: Ladenbesitzer Uka (Luan Jaha) hat ein Jahr nach dem Krieg in einem kosovarischen Dorf das Sagen. Als Lehrerin Lushe (Irena Cahani) einer ausländischen Journalistin erklärt, dass sie und drei weitere Frauen im Krieg vergewaltigt wurden, startet Uka eine Hass-Kampagne. Schließlich hat Lushe Schande über das Dorf gebracht. Alle Männer folgen dieser Sichtweise.
Der aus neun Filmen bestehende Wettbewerb sowie das ergänzende „In Focus“-Programm wurden von sozialrealistischen und intimen Dramen dominiert. Herausragend das aus dem Berlinale-Panorama übernommene Debüt von Regisseurin und Drehbuchautorin Tinatin Kajrishvilli, „Brides“. Der Film über eine wortkarge Näherin (Mari Kitia, ausgezeichnet als beste Darstellerin), die versucht, die Beziehung zu ihrem im Gefängnis sitzenden Mann aufrecht zu erhalten, demonstriert eindrucksvoll die gegenwärtige Blüte des georgischen Kinos.
Stark auch der türkische Film: Nicht nur der Sieger von Cannes („Winter Sleep“), auch der Gewinner von Sarajevo kommt in diesem Jahr aus der Türkei: Die Jury um den ungarischen Regisseur Béla Tarr entschied sich für „Songs of My Mother“ von Erol Mintas. Einfühlsam porträtiert er in Ali, einem kurdischen Lehrer (Feyyaz Duman, ausgezeichnet als bester Darsteller), und dessen alter Mutter Nigar (Zubeyde Ronahi) eine Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne, Stadt und Land.
Jasmila Žbanić zeigte ihre Komödie "Love Island"
Einen Kontrapunkt setzte Jasmila Žbanić, die zum ersten Mal einen Film beim Festival ihrer Heimatstadt zeigte. „Love Island“ ist zudem die erste Komödie der Berlinale-Siegerin von 2006 („Grbavica“). Der Film, den sie zusammen mit dem Schriftsteller Aleksandar Hemon schrieb, spielt in einem kroatischen Urlaubsressort, wo die hochschwangere Französin Liliane (Ariane Labed) mit ihrem bosnischen Mann Grebo (Ermin Bravo) die Adria genießt. Als Tauchlehrerin Flora (Ada Condeescu) dort auftaucht, gerät die Idylle ins Wanken, denn die attraktive Brünette ist die Ex-Geliebte von Liliane.
Eine temporeiche Homo-Hetero-Dreiecksgeschichte beginnt – mit dem Scorpions-Song „Wind of Change“ als Leitmotiv. Nach der umjubelten Premiere sagte Žbanić: „Ich glaube, wir sind alle reif für etwas 'Wind of Change'“. Das sei in zweifacher Hinsicht gemeint, erläutert die 39-Jährige ein paar Tage später im Gespräch: „Wir haben im Oktober Wahlen und müssen wirklich etwas ändern. Und natürlich geht es auch um die Situation von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender-Leuten. Es ist hier so irre konservativ. Veränderung ist ein wichtiges Wort für Bosnien.“ Mit „Love Island“ hat Žbanić zumindest in Sachen Toleranz-Förderung schon etwas erreicht: Die Komödie war so beliebt, dass eine zusätzliche Vorstellung angesetzt wurde.
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