Pyramidenstadt: Als die Menschen Götter wurden
Mexikos Pyramidenstadt Teotihuacan ist weltberühmt– und voller Rätsel. Eine Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau.
Die ersten Archäologen waren die Azteken. Sie kamen im 13. Jahrhundert in eine verlassene Stadt: Überwucherte, im Erdreich versunkene Gebäude, Reste von Alltagsgegenständen wie Tontöpfen und Skulpturen lagen im Geröll, und aus den Ruinen ragten, hoch wie Berge, einzelne Pyramiden von fast unvorstellbaren Ausmaßen. Wie hatten Menschen solches schaffen können? Für die Azteken war klar: Das ist die Stadt, wo die Götter die jetzige Welt erschaffen hatten. Sie nannten die Stadt Teotihuacan: „Die Stadt, in der die Menschen zu Göttern wurden.“
Mythos Teotihuacan. Nicht nur für die Azteken war die Stadt ein Rätsel. Auch heute weiß man nicht viel mehr über die Stadt, die seit 1987 Unesco-Weltkulturerbe ist und jedes Jahr Millionen von Menschen anzieht, Mexikos berühmteste, größte und beliebteste archäologische Stätte. Besonders zur Sonnenwende am 21. März wird es hier eng: Bis zu einer halben Million Menschen kommen hierher, um den Sonnenaufgang zu erleben. Das ist für die Archäologen jedes Mal ein Albtraum.
Die Sonne, die auf- und untergeht: Darauf beruht der Mythos von Teotihuacan. Darauf beruht auch die Kultur, die fast acht Jahrhunderte, vom ersten Jahrhundert v. Chr. bis 650 n. Chr., blühte, und danach unerklärlicherweise in Vergessenheit geriet. Teotihuacan, das in seiner besten Zeit 200 000 Einwohner hatte, die größte Stadt der mittelamerikanischen Welt, zur damaligen Zeit nur mit Rom vergleichbar, brannte fast vollständig ab, keiner weiß warum. Eine seltsame Scheu scheint die Menschen abgehalten zu haben, die zerstörte Stadt erneut zu besiedeln. Bis die Azteken kamen und Teotihuacan zu ihrem Gründungsort machten. Die Faszination wirkt bis heute.
In Berlin sind nun, parallel zur äußerst erfolgreichen Frida-Kahlo-Ausstellung und zur Feier des hundertsten Jahrestags der mexikanischen Revolution, rund 450 spektakuläre Objekte zu sehen, viele davon aus Grabungen der jüngsten Zeit. Teotihuacan, das sich einst über 23 Quadratkilometer erstreckte, ist längst nicht erschlossen und ergraben. Ein Großteil der Stadt liegt noch unter der Erde, zum Teil machen aktuelle Neubauprojekte archäologische Grabungen für immer unmöglich. Raubgrabungen und wenig fachgerechte frühere Forschungen taten ihr Übriges. So hat man bei der Rekonstruktion der Sonnenpyramide, des spektakulärsten Baus von Teotihuacan, irrtümlich eine Ebene zu viel rekonstruiert. Einen der größten Plätze, das „Große Ensemble“, deckt noch immer ein Parkplatz.
Teotihuacan ist vor allem eine monumentale Stadtanlage. Im Zentrum die Regierungs- und Religionsbauten, die Sonnen- und die Mondpyramide, die gewaltige Zitadelle mit dem Tempel der geflügelten Schlange, und dazwischen die Straße der Toten. Darum herum gruppiert, exakt nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet, sind Wohnbezirke, die aus riesigen Komplexen bestanden, die mehrere hundert Zimmer hatten. Zugezogene von außerhalb, etwa aus Oaxaca, hatten ihr eigenes Quartier – Teotihuacan hat sich schon immer durch lebhafte Handelsbeziehungen zu anderen Kulturen ausgezeichnet. So finden sich in der Stadt Jadeobjekte, wie sie die Maya herstellten, oder auch Tongefäße aus Fine-Orange-Keramik, die in der südlichen Region des Staates Puebla hergestellt wurden. Andererseits sind Gegenstände aus Teotihuacan überall in Mittelamerika zu finden.
Dreißig Jahre Forschungsarbeit wird nun in Berlin präsentiert. Einen GroßKomplex unweit der Mondpyramide, den Xalla-Komplex, hat man in den letzten Jahren ausgegraben – die Rätsel wurden eher mehr als weniger. Es scheint sich um den zentralen administrativen Bereich gehandelt zu haben, einen riesigen Palastkomplex mit prächtigen Wandmalereien, der aus 29 Gebäuden und acht Plätzen besteht. Saßen hier die Herrscher von Teotihuacan, von denen man nichts weiß, weil sie, anders, als die Maya, weder Porträtstatuen noch Namen hinterließen? Der Ausrichtung des Palastkomplexes entlang der Himmelsrichtungen entsprechend hat die These aufkommen lassen, es hätten in Teotihuacan vier Herrscher gleichzeitig regiert, jeder über ein Viertel der Stadt. Belegt ist das nicht.
Was aber in Xalla gefunden wurde,ist eine monumentale Jaguar-Skulptur. Das Tier, aus Stein gehauen, mit Stuck verziert, mit Farbe bemalt, fletscht die Zähne, streckt dem Betrachter aggressiv die Tatzen mit Krallen entgegen. Der Jaguar, Symbol von Krieg, Macht und Kampf, könnte auch Emblem einer soldatischen Einheit gewesen sein, ähnlich wie der Kojote, der Adler, die Eule, der Kolibri. Die Vorstellung einer friedliebenden, handeltreibenden, nicht auf Expansion bedachten Gesellschaft, wie sie lange Zeit für Teotihuacan angenommen worden war, ist in den letzten Jahren revidiert worden. Zu sehr häuften sich die Funde von Waffen und Kampfdarstellungen. Auch die immer wieder bei Ausgrabungen gefundenen Menschenopfer müssen irgendwo hergekommen sein. Im Xalla-Komplex fand man die lebensgroße Marmorfigur eines geopferten Gefangenen, der offenbar mit Pfeilen beschossen wurde. Es ist die größte Skulptur, die bislang in Teotihuacan gefunden wurde.
Ja, das Menschenopfer. Grund für die verbreitete Vorstellung, es habe sich bei der mittelamerikanischen Kultur um eine barbarische Gesellschaft gehandelt. Die herbe, oft furchterregende, stark stilisierte Form der Wandbilder und Skulpturen ließ die Teotihuacan-Kultur zusätzlich fremd erscheinen, gerade verglichen mit der stärker individualisierten MayaKultur. Auch hier haben Funde in der Mondpyramide, neben der Sonnenpyramide die Hauptattraktion von Teotihuacan, in den letzten zehn Jahren aufregend neue Erkenntnisse gebracht. Sieben vorhergehende Gebäude sind in dem Pyramidenbau verborgen, alle begleitet von entsprechenden Bauopfern, dazu Hunderte von Gegenständen aus Keramik und Stein. Zum Teil scheinen die Menschen lebendig begraben, die Tiere in Käfigen eingemauert worden zu sein. Grausame Methoden? Eher eine ritualisierte Überlebensstrategie, erklärt Miguel Baez, der in Nachfolge des kurz nach Eröffnung der Ausstellung in Monterey überraschend verstorbenen Kurators Felipe Solis die Ausstellung für Europa bearbeitet hat. Man musste Menschen opfern, damit die Welt weiter bestehen bleibt.
Der Teotihuacan-Mythos erzählt von einer Form des Götteropfers: Als am Ende der vierten Zeit die Sonne unterging, diskutierten die Götter, wer von ihnen das Licht wieder in die Welt bringen sollte. Der schöne Gott Tecuciztecatl erklärte sich bereit, bekam es aber mit der Angst zu tun. So opferte sich Nanahuatzin und stürzte sich in die Flammen, und verwandelte sich in eine Feuerscheibe: die fünfte Sonne. Sein Rivale Tecuciztecatl, der ihm dann doch nachfolgte, schaffte es nur zum Mond. So begannen die Gestirne ihren täglichen Umlauf am Firmament.
Sonne und Mond, Feuer, Wasser, Erde und Luft sind die Grundelemente der stark religiös geprägten Lebenskultur in Teotihuacan. So sind in Berlin hinreißende „Theater“Räuchergefäße zu sehen, die mit Fruchtbarkeitsritualen verbunden wurden. Asche und Ton, Rauch und Wasser verkörpern die Elemente, Verzierungen wie Vögel, Schnecken, Muscheln weisen auf das Paradies, die Augen der Masken sind mit spiegelndem Stein gefüllt. Individualität galt nichts in der Bildkultur von Teotihuacan, wo alle Masken die gleichen stereotypen Gesicher haben.
Damit die Sonne jeden Tag neu aufgehen könne, waren Opfer nötig, waren lebenserhaltend für die gesamte Kultur. Auch das Ballspiel, offenbar den Priestern vorbehalten, war ein Ritual. Doch wo das Leben ist, ist immer auch Tod: Am Ende der Ausstellung steht eine Fratze mit herausgestreckter Zunge, eine kreisförmige Skulptur des Herrn der Unterwelt, umgeben von einem Sonnenrad. 550 nach Christus fand bei der gewaltsamen Zerstörung der Stadt die lebendige Kultur von Teotihuacan ihr Ende.
Martin-Gropius-Bau, bis 10. Oktober, täglich 10 bis 20 Uhr, ab 10. August Di geschlossen. Katalog 35 Euro
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