Hugo Cabret: Als die Bilder träumen lernten
Das Leben der Kulissen: Martin Scorsese feiert mit seinem 3-D-Meisterwerk „Hugo Cabret“, das am Donnerstag startet, die Kinderzeit des Kinos. Der Held ist ein zwölfjähriger Junge, der 1931 im Pariser Bahnhof Montparnasse lebt
Die Koinzidenz ist verblüffend. In wenigen Tagen beginnt die 62. Berlinale – Gastgeberin für die internationale Filmwelt und hunderttausende Berliner, die ihr Jahresfest der ganz besonderen Kinobegeisterung begehen. Und am selben Tag kommt Martin Scorseses „Hugo Cabret“ regulär ins Kino – einer der beiden brillanten Oscarfavoriten, die mit allen Mitteln heutiger Filmkunst die Frühzeit des bald 120 Jahre alten Mediums feiern. Michel Hazanavicius’ „The Artist“ mag in einer mitreißenden Story „nur“ den Stummfilm wiedererfinden; Martin Scorsese setzt überdies mit dramaturgisch prächtig dienlicher 3-D-Technik auf die Zukunft.
Was für ein toller Berlinale-Eröffnungsfilm wäre dieser „Hugo Cabret“ gewesen! Gewiss: Schon formal scheidet „Hugo Cabret“ für die Festivaleröffnung aus – der Film ist seit November in knapp 20 Ländern angelaufen, in rund 20 weiteren startet er bis April. Dass aber der Verleih sich für den Deutschlandstart ausgerechnet den 9. Februar ausgesucht hat, dürften nur Gutwillige als schönen Gruß an das der Filmkunst gewidmete Berliner Großereignis deuten. Tatsächlich wirkt die Terminierung wie ein unfreundlicher Akt, der dem Festival automatisch Aufmerksamkeit entzieht. Denn der passionierte Cineast, der elf Berlinale-Tage lang dem üblichen Kinobetrieb gern den Rücken kehrt, kann an „Hugo Cabret“ kaum vorbei. Und er soll es nicht bereuen.
Der Film funktioniert wie ein faszinierend vieldimensionales Papiertheater. Denn seine bemalten Prospekte führen in einen nicht nur räumlichen Hintergrund. Vorn ist das Kinderfilmsetting, dahinter das historische Abenteuer und schließlich eine Lebensphilosophie. Ja, es geht Scorsese sehr ernstlich um etwas – in diesem Werk fernab vom vertrauten Breitwandthrill. Keine „Gangs of New York“, kein „Departed“ oder „Shutter Island“, um nur an seine jüngeren Titel zu erinnern, genauso wenig ein weiterer „Aviator“-Abstecher ins pure Biopicentertainment. Zwar schimmert in „Hugo Cabret“ bald die Biografie eines der ganz Großen des Kinos durch; eigentlich aber erzählt Scorsese, ungeachtet aller Aufregungen im Vordergrund, zärtlich, fast intim von zwei kindlichen Helden und einem alten Mann. Und sie verbindet, was alle Kinoliebhaber verbindet, wenn sie nicht allzu arg erwachsen geworden sind: die Lust am Staunen.
Der zwölfjährige Hugo (Asa Butterfield) lebt auf dem Pariser Bahnhof Montparnasse, es ist das Jahr 1931, und weil sein Vater tot ist und sein Uhrmacheronkel ein Säufer, achtet Hugo darauf, dass alle Uhren in dem Riesenbahnhof immer richtig gehen. Wie gut, dass er dessen labyrinthische Gänge perfekt kennt und so dem komisch grimmigen Inspektor (Sacha Baron Cohen) immer wieder entkommt, der ihn wegen stibitzter Kleinigkeiten ins Waisenhaus stecken will. Hugo repariert, Vermächtnis seines Vaters, eine mysteriöse Maschinenfigur, und dafür klaut er schon mal ein Aufziehspielzeug aus dem Laden des Obergriesgrams Georges (Ben Kingsley). Der erwischt ihn auf frischer Tat – und wenn Georges Ziehtochter Isabelle (Chloë Grace Moretz) und der herzförmige Schlüssel nicht wären, mit dem man die mechanische Figur ein bisschen in Gang setzen kann…
Das ist die Kinderfilmtheaterkulisse, und nie verliert Scorsese sie aus den Augen. Auch wenn die Spur vom reaktivierten Menschlein – es kann schreiben, es kann zeichnen, es zeichnet einem Mondmann eine Rakete ins Auge! – bald zu dessen Erfinder führt: Der alte Georges ist der vergessene Filmpionier Georges Méliès, der in seinem berühmtesten Film „Die Reise zum Mond“ (1902) dem Mondgesicht selber die Augen und die Lippen lieh. Längst hat der verbitterte Künstler sich die Identität des im lichtlosen Bahnhofsgewölbe hausenden Händlers übergestreift, aber die Recherche der Kinder ruft die Fachwelt auf den Plan. Und der große Bilderzauberer Méliès wird, zumindest für einen Augenblick, dem Vergessen entrissen.
Was für eine schöne Utopie: Es sind die Kinder, nicht die Erwachsenen, die das Erbe der ganz Alten wiederentdecken und bewahren. Was für eine – nicht nur augenzwinkernde – Hoffnung auch des bald 70-jährigen Martin Scorsese, der sich seit Jahrzehnten massiv für die Restaurierung alter Filme engagiert. Nun lässt er in „Hugo Cabret“ überall selbst die Historie auferstehen: ihre Anfänge mit dem 60-Sekunden-Stummfilm „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ (1895) der Gebrüder Lumière, bei dessen Besichtigung die Zuschauer einst panisch aus dem Vorführraum stürzten; oder die berühmte Szene aus „Safety last!“ (1923), in der Harold Lloyd sich als Wolkenkratzerfassadenkletterer an einen riesigen Uhrzeiger klammert. Actionkino vom Feinsten und Frühesten.
Fein auch bleiben diese Ausflüge ins cineastische Bildergedächtnis stets mit der Handlung verwoben. Hier ist es Hugo, der an den Zeigern einer der Bahnhofsuhren baumelt – und einmal albträumt er und erlebt bald darauf jenes durch ein Foto überlieferte Unglück von 1895, bei dem ein Zug mit defekten Bremsen in den Kopfbahnhof Montparnasse rast und die Lokomotive zehn Meter tief auf den Vorplatz stürzt. Das alles ist bereits faszinierend nachgestellt. Völlig grenzenlos dann wirkt – in wunderbar sinnfällig angewandtem 3-D – Scorseses Liebe zu Méliès’ Kulissenfantasiewelten bei der Wiedererfindung des gläsernen Studios in Montreuil, in dem die meisten seiner 500 Stummfilme entstanden. Und wo er Anfang der zwanziger Jahre, verarmt und vergessen, massenweise Negative einschmolz, um das Material an Schuhsohlenfabrikanten zu verhökern.
So aberwitzig diese finsteren Anekdoten klingen: Sie gelten als verbürgt. Vom echten Méliès ist sogar überliefert, dass er mit Mitte sechzig als Bonbonverkäufer auf dem Bahnhof Montparnasse lebte, bevor er dort im Spielzeug- und Süßigkeitenladen einer seiner früheren Aktricen auszuhelfen begann. Nur der kleine Maschinenmensch mit seinem Thorax aus Zahnrädern dürfte gänzlich hinzuerfunden sein – schon in der Vorlage zu Martin Scorseses Film. Brian Selznick, ein ferner Nachfahre des legendären Hollywoodproduzenten David O. Selznick, hat die wildtriste Vita des Georges Méliès in sein 2007 erschienenes, preisgekröntes Kinderbuch „Die Erfindung des Hugo Cabret“ hineingewebt. 500 Seiten mit 200 ganzseitigen Schwarz-Weiß-Bildern: ein perfektes Storyboard für den großen Martin Scorsese.
In Amerika hat „Hugo Cabret“ erst ein Drittel seines gewaltigen 170-MillionenDollar-Budgets eingespielt. Vielleicht, weil der Film so anders ist als alles, was man von Scorsese zu kennen meint? Und weil sein Regisseur sich nicht scheut, aus lauter Passion für seinen Gegenstand am Ende ein wenig ins Pathetisch-Pädagogische zu driften? Der Weltmarkt und die Oscars dürften es richten, und das Medium dieses Films ist ohnehin mindestens so stark wie seine Message. Schon während des Abspanns scheint sie sich, weil sie aus der Lust an Bildern erschaffen ist, in pures, bewegtes Bildergedächtnis zurückzuverwandeln. Und schnurrt – in der Metapher des so liebevoll geretteten Maschinenmenschen – bald als Rädchen in jenem Getriebe, in dem das Heute des Kinos nur mit seinen Anfängen zu denken ist. Und umgekehrt.
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