Sayed Kashuas Roman "Zweite Person Singular": Als Araber geboren und Bürger Israels
Der Schriftsteller Sayed Kashua gehört zu den circa 20 Prozent Israelis arabischer Abstammung. Die Protagonisten seines Romans "Zweite Person Singular" entsprechen kaum dem in der israelischen Gesellschaft kursierenden Araberklischee.
Nachdem Sayed Kashua als 14-jähriger die Zulassung für die Kunst- und Wissenschaftsakademie in Jerusalem erhalten hatte, sollte die erste Woche dort die schlimmste seines Lebens werden. „Jeder Tag“, lässt der israelische Schriftsteller den Helden seines autobiografischen Romans „Tanzende Araber“ sagen, „gab mir einen neuen Grund, bitterlich zu weinen. Ich war mir sicher, wenn ich meinen Eltern erzählte, was los war, würden sie mich verstehen und mich nicht zurückschicken. Mein Vater jedoch sagte, Millionen von Kindern wären gern auf dieser Schule. Ich aber weinte wie ein Baby.“
Absolut furchteinflößend sei es für ihn gewesen, erinnert sich der heute 35 Jahre alte Kashua in einem Filmporträt der Regisseurin Dorit Zimbalist, unter lauter Fremden zu sein, die sich anders kleiden, anders essen, anders sprechen, anders fühlen, die zu einer anderen Nation gehören: „Auf einer bestimmten Ebene hatte es etwas davon, mit dem Feind zusammen zur Schule zu gehen.“
Sayed Kashua lacht, als er das sagt. Er ist ein selbstironischer Mensch, immer zu einem hintergründigen Witz aufgelegt. Das beweisen auch seine drei Romane, die Kolumnen, die er für die liberale israelische Tageszeitung „Ha’aretz“ schreibt, sowie seine Sitcom für einen großen israelischen Fernsehsender mit dem Titel „Awoda Aravit“, zu deutsch „arabische Arbeit“. Im Kern jedoch stimmt die Äußerung über das einstige Fremdeln auf der Kunstakademie: Sayed Kashua gehört zu den circa 20 Prozent Israelis arabischer Abstammung. Zu den palästinensischen Arabern mit israelischem Pass, den Nachkommen jener nichtjüdischen, christlichen oder muslimischen Palästinenser, die nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948 nicht aus Palästina geflohen oder die rechtzeitig zurückgekommen sind.
1975 als Sohn eines unter anderem auch zwei Jahre inhaftierten palästinensischen Widerstandskämpfers geboren, wuchs Kashua in der 20 000 Einwohner zählenden, in der Nähe von Tel Aviv gelegenen arabischen Ortschaft Tira auf. Er begann dann aber nicht nur Hebräisch zu lernen, sondern hebräisch zu fühlen und nach dem Wechsel auf die Hebräische Universität Jerusalem auch hebräisch zu schreiben: „Tanzende Araber“, sein Debüt von 2002, sorgte nicht zuletzt deshalb für viel Aufsehen in Israel und brachte Kashua eine Nominierung für einen der wichtigsten Literaturpreise des Landes ein, als Konkurrent von Amos Oz, Abraham B. Jehoshua und Ephraim Kishon. Kashuas Leben ist eine Erfolgsgeschichte. Seine Romane, von denen der jüngste, „Zweite Person Singular“, gerade auf Deutsch erschienen ist, sind Bestseller in Israel, die Fernsehserie geht in die dritte Staffel, seine Kolumnen werden viel diskutiert.
Und doch spricht er in Dorit Zimbalists „Forever Scared“ betitelten Film von seiner notorischen Angst im Allgemeinen – und von der vor Hunden genauso wie vor Flugzeugen oder Panzern im Speziellen. Ob in seinem Heimatort, in den er 2003 zum Schreiben eines Buches zurückkehrte, ob in Beit Safafa, dem kleinen arabischen Dorf südlich von Jerusalem mit wechselvoller Geschichte, wo Kashua viele Jahre mit Frau und zwei Kindern wohnte, ob in dem jüdischen Viertel im Westen Jerusalems, wo er seit Neuestem lebt: Die Angst hat Kashua nie verlassen. Sie ist die Grundmelodie seines Lebens in einem Land, das er zwar als „sein“ Land bezeichnet, in dem er aber trotzdem oft genug das Gefühl hat, diskriminiert zu werden, sich anpassen zu müssen. Zumal Israels tonangebende kulturelle Schicht ihren Blick gern gen Europa richtet und die geografische Lage Israels geflissentlich übersieht.
Nicht weiter verwunderlich also, dass die Protagonisten in Kashuas Romanen einem großen Anpassungsdruck ausgesetzt sind. Der fast akzentfrei hebräisch sprechende Held von „Tanzende Araber“ versucht, so wenig arabisch wie möglich auszusehen mit Koteletten, einer runden Sonnenbrille und einem Sonic-Youth-T-Shirt. Und selbst noch bei der Entbindung seiner Frau, beim Warten im Krankenhaus, liest er in einer hebräischen Thomas-Bernhard-Übersetzung, „nicht irgendein Buch, sondern ,Wittgensteins Neffe‘. Sogar ein Arzt würde staunen, wenn er zufällig vorbeikäme“.
Auch in „Zweite Person Singular“ sind die zwei männlichen Hauptfiguren, die beide aus kleinen arabischen Dörfern stammen, ständig beschäftigt damit, „so zu sein wie sie“ – wie die jüdischen Israelis, „von aschkenasischer Herkunft, Kinder der westlichen Kultur“. Zum einen der Rechtsanwalt, der nur „der Rechtsanwalt“ heißt und von dem Kashua in der dritten Person erzählt. Der Rechtsanwalt lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern im Westen Jerusalems; auch sein Büro hat er vom Ostteil der Stadt in den Westen verlegt, denn „er hatte das Gefühl, dass die Ostjerusalemer einen Rechtsanwalt mit einem Büro in einem jüdischen Bezirk höher achten würden.“
Die andere Hauptfigur heißt Amir. Von ihm erzählt Kashua in der Ich-Perspektive. Amir arbeitet nach einem Studium der Sozialwissenschaften bei einer Drogenberatungsstelle. Eines Tages erklärt er sich bereit, Nachtwachen bei dem jungen jüdischen Israeli Jonathan zu halten, der nach einem Selbstmordversuch im Koma liegt und zu hundert Prozent pflegebedürftig ist. Ein Nebenjob mit Folgen. Nach und nach übernimmt Amir mit dem Wissen von dessen Mutter die Identität Jonathans. Er schlüpft gewissermaßen in dessen Körper und wird Student der Fotografie an einer Kunsthochschule: „Nichts Außergewöhnliches. Nichts Besonderes. Ich war einer der normalen Studenten, für die die Fakultät eingerichtet worden war.“
Sayed Kashua lässt amüsant und unterhaltsam die Wege des Rechtsanwalts und Amirs kreuzen. Trotz aller Leichtigkeit im Ton, aller Lustigkeit wird deutlich, wie ernst es Kashua ist, wie zwanghaft seine Helden auf Identitätssuche sind, wieviel Bitterkeit in ihnen steckt. Und wie wenig sie dem in der israelischen Gesellschaft kursierenden Araberklischee entsprechen. Den Arabern gehe es ja vorgeblich, heißt es im Roman, nur um „Ehre in jeder Form, Selbstachtung, nationale Ehre, religiöse Ehre, Familienehre“.
Das Denken und Trachten von Kashuas arabischen Israelis richtet sich vielmehr an der westlichen Kultur aus. Sie spielen sich als Wein- oder Whiskeykenner auf, entdecken wie Amir Bands wie Metallica oder Radiohead, und ihnen gehen Liebe und individuelle Freiheit über alles. Kashua aber ist zu klug, darin das Allheilmittel zu sehen: Amir und der Rechtsanwalt sind arme Tröpfe, ihre Lebensentwürfe auf schwachem Grund gebaut.
Trotzdem stehen ihnen Religion und Herkunft sehr im Weg, die politischen Umstände, der dauernde Kriegszustand. Insofern haben Kashuas Helden, wiewohl „Zweite Person Singular“ vorher entstanden ist, viel gemein mit den jungen Arabern, die entscheidend mitverantwortlich sind für den aktuellen Auf- und Umbruch in der arabischen Welt. Oder man denke an das im Januar im Internet veröffentlichte Manifest der sogenannten Free Gaza Youth: „Fick dich, Hamas. Fick dich, Israel. Fick dich, Fatah. Fick dich, UN!“ Und weiter: „Wir sind eine Jugend mit schweren Herzen. Wir tragen eine Traurigkeit in uns, die es uns schwer macht, den Sonnenuntergang zu genießen.“
Diese Melancholie schwingt genau so in Kashuas Roman mit. Und sie ist auch erkennbar, als Sayed Kashua auf die Frage von jüdischen Schülern in Tel Aviv, ob er das Gefühl habe, zwei Nationalitäten zu besitzen, antwortet: „Ich bin weder das eine noch das andere. Die Frage ist eher: Wie schaffe ich es, als Araber geboren zu sein und in Israel zu leben?“
Sayed Kashua: Zweite Person Singular. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 2011. 395 S., 22 €.
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