Antonio Tajani: Alles schon vergessen?
Das Europaparlament hat einen neuen Präsidenten. Und Schriftsteller Friedrich Christian Delius noch ein paar Nachfragen.
Alles vergessen? Warum wählt das Europaparlament unter mehr als 700 Köpfen ausgerechnet den Kampfgefährten und Intimus von Europas erfolgreichstem Populisten zu seinem Präsidenten? Antonio Tajani, der einer Partei angehört, die keine Partei in unserem Sinn, sondern wie eine Firma organisiert ist, in der allein der Chef über seine Angestellten-Abgeordneten bestimmt?
Erinnert sich überhaupt noch jemand an einen gewissen Silvio Berlusconi, der Italien 20 Jahre lang heruntergewirtschaftet hat und dessen Gift der Destruktion bis heute wirkt? An einen charmanten Herrn, der sich nur an der Macht halten konnte, weil er Gesetze durchgesetzt hat, die ihn vor laufenden Ermittlungsverfahren wegen Korruption und anderen Prozessen schützten, sei es durch Verkürzung der Verjährungsfristen, seltsame Ermittlungserschwernisse oder Richterbestechung?
Vor Big Trump gab es schon Little Trump
Gab es da nicht einen italienischen Machthaber, der nur an der Macht geblieben ist, weil er Abgeordnete kaufte – und weil ihm Leute wie Tajani in Rom und Brüssel den Rücken freihielten? Einen Ministerpräsidenten, der fast täglich gegen das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung polemisierte, Richter zu Terroristen erklärte und Mafiakritiker wie Roberto Saviano für gefährlicher hielt als die Mafia? Ein gewisser Cavaliere, der sich nie um Interessenkonflikte scherte und seine Medienmacht als Regierungschef zur Medienübermacht ausbauen konnte? Der bereits in den 90er Jahren das Vokabular benutzte, mit dem heute Le Pen, Wilders und Gauland operieren, und mit ähnlichem Furor gegen Europa hetzte wie seine Epigonen? Der kleine Trump vor dem großen Trump?
Alles vergessen?
Und unsere deutschen Christdemokraten? Lesen sie keine Zeitungen? Zugegeben, nur die „Süddeutsche Zeitung“ hat über das alles berichtet, die meisten anderen deutschen Blätter delektierten sich eher an der unterhaltsamen Seite des Mannes. Wo informieren sich Christdemokraten über ihre Fraktionskollegen? Wer in den 90er Jahren zu jung zum Zeitunglesen war, braucht nur „Citizen Berlusconi“ von Alexander Stille aufzuschlagen (Verlag C. H. Beck, 2006).
Oder will man alles auf Helmut Kohl schieben, der sich von Berlusconi einwickeln ließ und die erwiesenermaßen mafiagestützte „Forza Italia“ in die Europäische Volkspartei EVP aufgenommen hat? Oder auf Angela Merkel, die nicht verhindert hat, dass danach erklärte Antidemokraten wie Viktor Orbán zum EVP-Parteifreund wurden? War der Kanzlerin und den christdemokratischen Europaabgeordneten die EVP-Macht auch diesmal wichtiger als der Abstand zu Parteien, die das Aushängeschild von klügeren Kriminellen, Rechtspopulisten und Faschisten sind? Warum wird Manfred Weber (CSU) nun allseits gelobt dafür, unter Dutzenden Kandidaten zielsicher einen Helfershelfer des Mannes aufs Schild gehoben zu haben, der wie kein Zweiter die europäischen Werte bekämpft, verhöhnt und unterwandert hat? Wie tief sind die Christdemokraten gesunken, dass sie im allgemeinen Trump-Fieber ihre Straßburger Trampelei nicht einmal bemerken?
Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius lebt in Berlin und Rom. Von ihm erschien zuletzt der Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ (Rowohlt, 2016).
Von Friedrich Christian Delius