zum Hauptinhalt
Seid umschlungen. Der französische Choreograf Boris Charmatz bringt den Besuchern auf dem Tempelhofer Flugfeld Tanzschritte bei.
© Gregor Fischer/dpa

Chris Dercons Volksbühnenauftakt: Aller Anfang ist leicht

Start auf dem Flughafen Tempelhof: Mit der Tanzperformance „Fous de Danse“ eröffnet Chris Dercon seine Volksbühnenintendanz.

Es war ein Kommen und Gehen, ein Schlendern und Herumstehen, ein Sonntagsausflug mit Kind und Hund und Fahrrad und freiem Eintritt. Am Ende sollen es 15 000 Besucher gewesen sein, die sich den Nachmittag über und in den Abend hinein auf dem Flugvorfeld bewegten und bewegen ließen. Die auch tief bewegt waren. Das Entree in Tempelhof war ein Berliner Festspiel.

Ein herrlich warmer Spätsommertag. Die Sonne strahlt – ein Zeichen? Für einen Moment gerät man ins Träumen. Alt und Jung, Groß und Klein, wie es so schön heißt, Gelenkig und Eckig, Dick und Dünn, mit und ohne Rucksack, alles reiht sich ein zum „Giant Soul Train“-Gruppentanz. Der kritische Geist hat gerade mal nichts zu tun; auch eine ungewohnte Erfahrung.

Was also, wenn es keine Flughafenprobleme gäbe, keinen Tempelhof-Volksentscheid, keinen Volksbühnenkampf? Was, wenn die Realität nicht so irreal und manchmal so idiotisch wäre, wie sie sich nun einmal darstellt in dieser Stadt?

Dann wären wir nicht in Berlin. Und das ist schon eine ernste Sache, die bei Chris Dercon und seinen Leuten auffällt, gleich beim Start. So viel gute Laune, das passt doch nicht hierher, das ist doch geradezu eine Provokation! Fröhliche Tänze mit den Eleven der Staatlichen Ballettschule Berlin. Kinder aus Frankreich, die sich an Strawinskys „Sacre du Printemps“ erproben, das BEM Folk Dance Ensemble und das Konservatorium für türkische Musik Berlin – das soll die neue Volksbühne sein?

Tempelhof bleibt ein Abenteuer, ein Provisorium

Das ist sie, und das ist sie noch nicht. Was unter einem blauen Himmel so leicht aussieht, täuscht über die tatsächlichen Verhältnisse hinweg. Nach dem populären Auftakt zeigt der Choreograf Boris Charmatz in dieser Woche dort im alten Flughafen Choreografien, die man wohl als anspruchsvoll bezeichnen darf. Charmatz wird sich mit den Herausforderungen und Ritualen eines professionellen Tänzerlebens und dem Vokabular zeitgenössischer Choreografie beschäftigen. Wirklich ein weites Feld.

Tempelhof, die neue, temporäre Spielstätte des Dercon-Theaters, übt auf das Publikum eine starke Attraktion aus. Schon der Weg durch die alte Abfertigungshalle weckt theatralische Begehrlichkeit. Im Hangar 5 wird es Ende September eine „Iphigenie“ von Mohammad Al Attar geben, mit Schauspielerinnen aus Syrien, auf der Bühne, die Francis Kérè entworfen hat. Aber das Geld, das dafür eigentlich notwendig wäre, hat Dercon nicht bekommen. So bleibt Tempelhof ein Abenteuer, ein Provisorium, ein Experimentierfeld. Gut so vielleicht. Dercons Kritiker halten sein Programm für glatt und austauschbar. Dieser Eindruck vermittelt sich zum Auftakt nicht. „Fous de danse“ hat Charme und Kraft.

Die Stadtbevölkerung scheint sich an dem zu freuen, was ist

Wenn man noch einen Augenblick weiterträumen darf: Vielleicht geschieht einmal etwas, dass der Hass und die Häme beim Thema Volksbühne aufhört. Das wird wahrscheinlich aber erst dann der Fall sein, wenn der Flughafen BER eröffnet ... Denn die Volksbühne hat viel mit dem Tegel-Krach gemeinsam. Warum etwas Bewährtes, Schönes, Funktionierendes abschaffen zugunsten eines Neuen, das eine Fehlplanung sein könnte? Warum überhaupt etwas ändern? Ist nicht die Zukunft sowieso eine Zumutung?

Seltsamerweise ist von dieser Mentalität beim „Fous de danse“-Tag kaum etwas zu spüren. Eine Stadtbevölkerung scheint sich hier an dem zu freuen, was ist. Und wie es ist. Als habe es eine Implosion gegeben. Plötzlich hat der Dercon-Beschuss aufgehört. Aber das gilt natürlich nicht für die sozialen Netzwerke. Da ist nie Feuerpause.

Dercon scheut die großen Dimensionen nicht

Dass der neue Volksbühnenintendant mit Tanz beginnt, könnte eine Stärke sein. Es ist ein Statement. Wenn man gesehen hat, wie Mithkal Alzghair allein auf dem Beton des Flugfelds steht und sich auszieht. Die Hosen, die Stiefel. Das Stück des syrischen Tänzers heißt „Displacement“. Zeigt er Szenen aus dem Krieg, Folter oder Flucht? Es ist mutig, was er macht, wie er sich öffnet. Eine einzelne Kreatur vor all diesen Menschen. Ein Energiebündel, ein Haufen Elend. Auch die Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker tanzt ein Solo. „Violin Phase“, nach einer Komposition von Steve Reich. Die Tänzerin, ganz in Weiß, in einem gewaltigen Kreis von Zuschauern. Eine packende Performance. Man kann nur staunen, was sie riskiert auf dem beinharten Grund, auf der Riesenfläche, die jeder Subtilität mächtig entgegensteht und doch wie ein Verstärker wirkt.

Erst die Party, dann „Partita 2“: Anne Teresa de Keersmaeker und Boris Charmatz im Bach-Duett. Man hat das schon einmal gesehen in Berlin, auf einer regulären Bühne. Aber hier gelten andere Maßstäbe. Weil Volksbühne draufsteht. „Fous de danse“ hat gezeigt, dass Dercon die großen Dimensionen nicht scheut. Man kann ja auch mal neugierig gespannt sein – ab November auf dem historischem Boden am Rosa-Luxemburg-Platz.

Zur Startseite