Ehepaar Hampel: Allein in Berlin
Sie kämpften gegen Hitler, bewaffnet nur mit Postkarten. Über das Ehepaar Hampel schrieb Hans Fallada einen Roman, der nun die Welt erobert. Was ist Wahrheit, was Dichtung?
In diesen Tagen blühen die Krokusse, weiß und violett, so wie sie auch im April 1943 blühten, als Otto und Elise Hampel in Plötzensee hingerichtet wurden. Eine seltsame Stille liegt heute über der Gedenkstätte. Drüben in der Kleingartenkolonie „Lindenblüte“ hängen Deutschlandfahnen in jedem zweiten Garten. Der Vereinsvorstand informiert über die Kriebelmücke: „Kratzen Sie bloß nicht!“ In den Beeten halten Gartenzwerge Wacht. Taxis rauschen über den Saatwinkler Damm zum Flughafen Tegel, von der Küche des Jugendgefängnisses her weht der Geruch von Mittagessen. Vielleicht waren auch damals Amseln zu hören, als Otto und Elise Hampel durch die jetzt verschlossene Tür des Gefängnisses zum Hinrichtungsschuppen geführt wurden, wo der Henker mit dem Fallbeil auf sie wartete.
Welches Verbrechen hatten sie begangen?
Elises Bruder starb im zweiten Kriegsjahr 1940 als Soldat an der Westfront. Diesen Verlust konnte das Ehepaar Hampel nicht verwinden, ihre Haltung zum Nazi-Regime änderte sich radikal. Sie, einfache Arbeiter, begannen, Postkarten und Flugschriften gegen Hitler zu schreiben, in ungelenker und fehlerhafter Blockschrift: „Nieder mit der Hitler Regierung! Nieder mit dem Zwangs Elends Dicktat in unser Deutschland!“ – „Alle helfen mit der Verbrecherischen Kriegs-Maschine ein Ende zubereiten!!! Wir müssen uns zur Wehr setzen!!!“
Mehr als 200 solcher Karten legten sie heimlich auf den Treppenabsätzen und Hausfluren der Wohnhäuser in ihrem Weddinger Kiez aus, auch in Charlottenburg, Schöneberg und Kreuzberg. In Zeiten, als schon das Hören ausländischer Radiosender mit Zuchthaus bestraft werden konnte, war das Schreiben und Verbreiten solcher Botschaften ein ungeheures Risiko. Die Hampels wollten die Bevölkerung aufrütteln, sie hofften, dass ihre Botschaften aufgehoben, gelesen, weitergereicht würden. Aber nur auf einer einzigen der Postkarten, die heute im Bundesarchiv verwahrt werden, findet sich ein Vermerk eines Finders: „Bitte Karte wandern lassen – Sondermeldung.“
Das Schicksal der Hampels ist lange unbekannt geblieben, obgleich Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ über das Schicksal der beiden Widerständler schon 1947 im Aufbau-Verlag erschien. Hier heißt das Ehepaar nicht Hampel, sondern Quangel, „diese beiden Menschen, die an die dreißig Jahre miteinander verbracht hatten, immer einträchtig, er schweigsam und still, sie etwas Leben in die Wohnung bringend“. Otto, „ein trockener, unausgiebiger Mann mit einem scharfen, vogelhaften Gesicht“, und Elise, „eine Frau mit frischen Farben, nur ihr Scheitel ist dünn geworden“.
In den letzten Jahren ist dieser Roman zu einem internationalen Überraschungserfolg geworden. 2002, als in Frankreich eine neue Übersetzung unter dem Titel „Seul dans Berlin“ erschien, wurde ein kleiner amerikanischer Verlag aufmerksam und veröffentlichte die erste englische Übersetzung. „Every Man Dies Alone“ wurde zum Bestseller, auch in England, wo das Buch kurz darauf unter dem Titel „Alone in Berlin“ erschien. In Israel steht der Roman ebenfalls seit Wochen an der Spitze der Verkaufslisten. Der Aufbau-Verlag hat nun auch eine deutsche Neuausgabe herausgebracht, die erstmals den ganzen und ungeglätteten Text enthält. Neben einigen Dokumenten zum Fall Hampel, die Fallada als Recherchegrundlage dienten, ist dem Buch ein historischer Stadtplan beigefügt, der Berlin so abbildet, wie es die Hampels erlebten.
Obwohl sich die Stadt in den vergangenen 70 Jahren so enorm verändert hat, lebt die Erinnerung an jenen Krieg weiter, der das Ehepaar Hampel in den Widerstand trieb. Margarete Lange und Helene Kanthak, beide aufgewachsen in Wedding, waren damals junge Frauen, heute sind sie 98 und 97 Jahre alt. „Man möchte an die Zeit gar nicht mehr denken“, sagt Frau Lange, bevor sie es doch tut. „Es war einfach nur furchtbar. Beim Einschlafen kommen die Erinnerungen wieder, wie ein Film. Rin in den Keller, raus aus dem Keller, zweimal, dreimal in der Nacht, wir waren ewig müde. Und nichts zu essen, ich hatte Hungerödeme, durfte mich nicht waschen, weil das Wasser knapp war.“ Frau Kanthaks Wohnung an der Müllerstraße wurde ausgebombt: „Die Wäsche hing auf den Bäumen die Straße runter.“ Mit den Nachbarn wurde die letzte Stulle geteilt, man hielt zusammen und musste doch sehr vorsichtig sein, was man zu wem sagte. Politischen Widerstand, wie die Hampels ihn wagten, haben Frau Lange und Frau Kanthak nicht erlebt, aber sie erinnern sich an die Deportation der jüdischen Bewohner des Wedding: „Das war furchtbar, als sie die Leute geholt haben, die Kinder standen dabei. Man konnte es nicht fassen. Die hatten keinem was getan.“
Auch die Hampels wohnten in Wedding, in der Amsterdamer Straße Nummer 10. Was damals ein Arbeiterviertel war, ist heute eine Mischung aus deutschen, türkischen, arabischen und afrikanischen Bewohnern, aus Arbeitslosen und jungen Studenten, die in Neukölln keine Wohnung mehr gefunden haben. Man geht an Änderungsschneidereien vorbei, am „Euro Nails Studio“, am „Kartenspiel International“ und dem Vereinsheim „One Africa“. Trödelläden bieten Möbel aus Wohnungsauflösungen an. In den Hausfluren werden heute vor allem Flyer von Pizza-Bringdiensten und Umzugsfirmen ausgelegt, politische Botschaften findet man eher auf Aufklebern, zum Beispiel von den Redskins: „Gegen Naziterror und Repression! Im Unterschied zu Hooligans arbeiten wir ergebnisorientiert. Wir wollen den Nazis weh tun.“ Oder ironisch: „Bleib passiv. Deine Bundesregierung.“ Eine Hausverwaltung informiert: „Auf dem Dachboden wurde von einer Mieterin ein Waschbär entdeckt und fotografiert. Es wird eine komplette Dachentrümpelung durchgeführt, danach Desinfektion und Vergrämungsmaßnahmen.“
Das Haus der Hampels steht nicht mehr, aber an dem Nachkriegsbau, der die Lücke eingenommen hat, erinnert eine Gedenktafel an sie. Der Fallada-Forscher Manfred Kuhnke konnte noch mit einer inzwischen verstorbenen Nachbarin der Hampels sprechen, Frau Quass, die im Krieg auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte. In Kuhnkes Buch „Hans Falladas letzter Roman – Die wahre Geschichte“ erinnert sich Frau Quass daran, was mit der Wohnung des Ehepaars nach der Festnahme geschah: „Niemand durfte sie betreten. Aber so etwa drei Wochen danach kam Bewegung in die Wohnung. Ich weiß noch, wir standen atemlos an unserem Fenster und beobachteten, wie sich drüben die Gardinen bewegten. Meine Mutter sagte: Nie und nimmer würde ich in diese Wohnung ziehen.“
Andere hatten weniger Skrupel. Das Hauswartsehepaar, der Mann in der SA, zog mit zwei kleinen Kindern aus dem Hinterhof-Parterre in die Wohnung der Hampels um. „Im November 1943 traf eine Luftmine das Haus“, fährt Frau Quass fort. „Es gab 96 Tote. Das Haus brannte noch wochenlang. Zu den Opfern gehörte auch die Hauswartsfamilie. Es war das einzige Haus der Gegend, das bombardiert worden ist, und es gab sofort das Gerücht, Frau Hampel hätte das Haus verflucht, deshalb ist es getroffen worden. Jahrelang lag der Schuttberg noch da. Als dann der Neubau begann und ein Arbeiter vom Gerüst fiel, wurde gleich wieder von dem Fluch gesprochen.“ Vergessen hat Frau Quass ihre ehemaligen Nachbarn nie. „Am 8. April denke ich immer an Hampels, da sind sie nämlich gestorben.“
Nahezu alle Postkarten des Ehepaars wurden von den Findern sofort bei der Polizei und der Gestapo abgegeben. Dennoch dauerte es zwei Jahre, bis die Urheber gefasst wurden. Ihre letzte Postkarte legten die Hampels am Nollendorfplatz aus, in der Eisenacher Straße 122. Dabei wurden sie von einer Anwohnerin beobachtet, einer Frau Waschke, die das Ehepaar sofort festhielt und bei der Schutzpolizei anzeigte. Für ihre Zeugenaussage vor dem Volksgerichtshof bekam Frau Waschke 3,10 Reichsmark zuzüglich Fahrgeld. Vom Ausgang des Verfahrens gegen die Hampels erfuhr sie zunächst nichts. Erst 1946 klingelte ein fremder Mann bei ihr, vermutlich Hans Fallada, und klärte sie über die Folgen ihrer Anzeige auf. Frau Waschke erlitt einen Schlaganfall, wurde 1948 verhaftet, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
In der Eisenacher Straße 122 steht mittlerweile ein Sozialbau aus den 70er Jahren, dessen Putz bereits blättert. Auf der einen Seite flankieren ihn Kunsthandlungen und Antiquitätengeschäfte, gegenüber liegen das „Rosa Curry“ und die „Blue Boy Bar“, an der Ecke bietet der „Military Store Berlin Leder und Fetisch“ seine weit gefächerte Auswahl von NVA-Mützen, Polizeihelmen, Thaiboxing-Shorts, Gasmasken und Klappspaten an. Gepflegte junge Männer mit Sonnenbrillen flanieren durch die Straßen. „Wenn die Bienen aussterben“, sagt einer im Vorbeigehen, „stirbt die Menschheit aus.“
Nach ihrer Festnahme wurden die Hampels in den Kellern der Gestapo-Zentrale an der Prinz-Albrecht-Straße verhört, die heute Niederkirchnerstraße heißt. Reste dieser Keller, die in den 80er Jahren noch ein verwilderter Autoübungsparcours verdeckte, sind heute auf dem Gelände der „Topographie des Terrors“ zu sehen.
Der Prozess fand im Volksgerichtshof in der Bellevuestraße 15 statt, das Gebäude steht nicht mehr. Das Fallbeil, mit dem man die Hampels in Plötzensee hinrichtete, wurde ein halbes Jahr später bei einem Luftangriff schwer beschädigt, dann in der Gefängnistischlerei Tegel wieder instandgesetzt und weiter verwendet. Es soll noch in den 70er Jahren auf einem Dachboden des Gefängnisses Plötzensee gelegen haben, doch das mag auch ein Gerücht sein, sagt der Jurist und Historiker Klaus Bästlein, wie so vieles, was die ehemalige Richtstätte betrifft: „Die Geschichte der Hinrichtungen in Plötzensee muss noch geschrieben werden.“
Die Geschichte der Hampels, immerhin, wurde geschrieben. Nach Kriegsende erhielt der „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ eine Vielzahl von Akten antifaschistischer Widerstandskämpfer. Johannes R. Becher, der Mitbegründer und Präsident des Kulturbunds, gab die Akten des Hampel-Prozesses an Hans Fallada weiter, mit der Anregung, einen Roman zum Widerstand in Deutschland zu schreiben. Fallada lehnte anfangs ab: Er habe, sagte er, selbst keinen Widerstand geleistet, sondern sich im großen Strom mittreiben lassen, und nun wolle er nicht besser erscheinen, als er es gewesen sei. Doch Fallada kannte die Verhältnisse unter den Nazis, er kannte den Berliner Kriegsalltag, und er hatte ein feines Gespür für die Sprache der kleinen Leute. Ende 1946 schrieb er den Roman dann doch, in einem Zustand völliger Versenkung, 866 Typoskriptseiten in kaum vier Wochen. Es wurde sein letztes Werk. Fallada starb am 5. Februar 1947.
Die Geschehnisse des Romans „Jeder stirbt für sich allein“ folgen nur in groben Zügen den Prozessakten. Fallada selbst erklärt in einer Vorbemerkung: „Ein Roman hat eigene Gesetze und kann nicht in allem der Wirklichkeit folgen.“ Das Roman-Ehepaar Quangel wohnt in der Jablonskistraße 55, im Prenzlauer Berg, damals ein Arbeiterbezirk wie der Wedding. Die Hausnummer gab es nie.
Auch viele Nebenfiguren des Romans sind gegenüber der tatsächlichen Geschichte verändert oder neu hinzugekommen. Dennoch entsteht ein dichtes Bild des Berliner Alltags. Fallada schildert die kleinen Gehässigkeiten, mit denen die Hauswartsfamilie die letzte jüdische Mieterin verfolgt, bis sie sich aus dem Fenster stürzt. Er beschreibt die Uniformierung der Gesellschaft anhand des Publikums im Tanzlokal „Elysium“, das es heute nicht mehr gibt. Er erspart den Lesern auch nicht die quälenden Wochen und Monate im Gefängnis Plötzensee bis zur Hinrichtung.
Bei aller einfühlsamen Genauigkeit verzichtet Fallada allerdings darauf, die letzte bittere Tragik im Leben der Hampels zu schildern. Die Eheleute waren vom Urteilsspruch der Todesstrafe, mit dem sie nicht gerechnet hatten, derart erschüttert, dass sie in ihren Gnadengesuchen begannen, sich gegenseitig zu beschuldigen, um die eigene Haut zu retten. Elise Hampel beschwor das seelische Leid nach dem Tod ihres Bruders; ihr Mann, fuhr sie fort, machte sich diese Gefühlslage „zu nutze mich mit seinem Willen und Gedanken zu beeinflussen, um mich in diese Verwirrungen und Verirrungen zu treiben“. Otto Hampel hingegen schob die Schuld seiner Frau zu: „Ihr dauerndes getöse und Unzufriedenheit und drängen zum verbreiten ergab es das so lange zeit die Karten in Erscheinung kamen.“
Genutzt haben den Hampels ihre Verteidigungsversuche nicht. In den Abendstunden des 8. April 1943 richtete man sie hin. Sie starben unter dem Fallbeil, jeder für sich allein.
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