Kultur: Alle Zeit der Welt
Michael Hanekes Film „Liebe“ ist eine umwerfende Beziehungsstudie über zwei Menschen am Ende des Lebens. Zwei große Veteranen des französischen Kinos, der 81-jährige Jean-Louis Trintignant und die 85-jährige Emmanuelle Riva, verkörpern ein Musikprofessorenpaar, das dem Sterben in tiefer Intimität entgegengeht
In diesem Film, der sein atemberaubendes Geschehen am liebsten in langen Einstellungen entfaltet, als ließe er sich von nichts und niemandem treiben, gibt es eine Reihe kurzer Bilder, zwischendurch. Ein paar Sekunden dauern sie – und wirken doch fast wie Clips. Blicke auf die entsetzliche nächtliche Einsamkeit der Protagonisten zum Beispiel; nur ihre Gesichter im Halbdunkel, allein. Oder, als hätte jemand eine Staffelei hingestellt, ein paar festgehaltene Perspektiven in der schön verwohnten Wohnung, in die der Film nach seinem zweiten Anfang zurückkehrt und die er fortan nicht mehr verlässt. Und dann sind da, recht spät im Geschehen, die Gemälde.
Es sind sechs oder sieben, Öl auf Leinwand, Landschaften allesamt, es sind Bilder, die einem im Verlauf der unerhörten Erfahrung, die das Sehen dieses Films bedeutet, aufgefallen sein mögen – angefangen mit zwei Menschen im Schatten mächtiger Baumstämme: Es ist das Bild, das über Annes und Georges’ Ehebett hängt, hier sehen wir es einmal ganz für sich. Und dann offene, wolkenverhangene Landschaften, Küste, Meer, erst mit hineingemalten Menschlein, doch unmerklich zaubern sie sich aus den himmelhohen Naturwelten davon. Mit freundlichem Gerechtigkeitssinn blickt die Kamera auf jedes dieser Gemälde, und plötzlich ist es diese winzige Bildersequenz, die letzte Fermate des Films, die einen inwendig überschwemmt.
Einmal, da ist das alte Paar noch im üblichen Sinne gut beieinander, oder zumindest fast, denn sie beginnen ja, sich für dieses allerletzte Lebenskapitel einzurichten, erzählt Georges Anne eine seiner Kindheitserinnerungen. Die Großmutter hatte ihm Geld fürs Kino gegeben, und so stolz er darauf war, dass er allein ins Kino gehen durfte, so tränenüberströmt kam er heraus – und so sehr schämte er sich seiner Tränen, als er einem älteren Nachbarsjungen von dem Film erzählte. An die Handlung erinnere er sich nicht mehr, sagt Georges, nur noch an das Gefühl. Und dass es beim Nacherzählen des Films noch überwältigender war als beim Sehen selbst.
Hier soll nichts nacherzählt werden. Und erst recht nichts auserzählt. Zumal dieser Film mit dem schlichten, wahren Titel „Liebe“, der im Mai das Festival in Cannes in aller Stille implodieren ließ, bevor er mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, jedem auf unverwechselbare Weise im Gedächtnis bleibt. Ihn den besten Film des Jahres zu nennen, ist eine Untertreibung; er überstrahlt eine Zeit. Wohl aber ist er die beste, reifste Arbeit eines inzwischen 70-jährigen Regisseurs, der seit „Caché“ (2004) und „Das weiße Band“, wofür er bereits vor drei Jahren die Goldene Palme bekam, Meisterwerk an Meisterwerk reiht. Schwindlig werden will einem angesichts der so felsensicheren Höhe, die Michael Haneke erreicht hat; und in nahezu kindliche Aufgeregtheit versetzt einen der Gedanke, er könnte seinen so klugen Erfindungen noch kühnere folgen lassen.
Der 81-jährige Jean-Louis Trintignant und die 85-jährige Emmanuelle Riva verkörpern das Musikprofessorenpaar, das dem Sterben in tiefer Unstörbarkeit und Intimität entgegengeht – und Michael Haneke hat die beiden, sanft vergessene Legenden des französischen Kinos, ihrem späten Eremitenleben entwunden. Ausdrücklich für Trintignant, einen seiner Lieblingsschauspieler, hat er die Rolle des seine Frau nach ihrem Schlaganfall pflegenden Georges geschrieben. Und Riva ist, wie er in einem Interview gesagt hat, seine Traumschauspielerin seit Alain Resnais' „Hiroshima, mon amour“ – auch diese Liebeserklärung also umspannt schon ein halbes Jahrhundert. Beide Schauspieler, die sich bis dahin nicht persönlich kannten, geben dieses Paar mit einer umwerfenden Intensität, als seien sie einander seit 50 Jahren tief vertraut, und es ist nichts Geringeres als ein Wunder. Was ist das für ein sogenanntes wahres Leben, das solche zwei nach den Dreharbeiten wieder auseinanderbringt?
Es beginnt mit einem Tod, und es endet – fast – mit einem Zustand, den man Jenseitstrost nennen könnte oder auch Traum, einen jener Träume, die einsickern in diesen Film, ohne ihn physisch mit Fülle zu versehen; wie überhaupt alles luzide bleibt und ohne Sentiment, weil es um das Bewusstsein der Menschen geht und ihren Willen bis zuletzt. Dazwischen aber ist Leben. Vergehendes Leben. Das Versprechen, beieinander zu bleiben zu Hause, trotz Annes sich in Schüben verschlimmernden Zustands, zu Hause bis zuletzt. Und die umsichtige Wärme eines Paars, das nicht aufgehört hat, sich zu lieben – das kann sich in einem Blick äußern oder im schönen Dahinoszillieren eines Gesprächs. Und wenn man nicht mehr sprechen kann miteinander, kann einer vorlesen. Oder erzählen, es gibt so Erinnerungen, die der andere wohl nur deshalb nicht kennt, weil sie einem selber fast ein Leben lang entfallen sind. Und wenn man nicht mehr erzählen und zuhören kann, kann man vielleicht gemeinsam singen?
Richtig, die Musik, sie ist das Leitmotiv, das Transzendente in diesem von Transzendenz keinerlei Aufhebens machenden Film. Schuberts Impromptus, ein Bach-Choral, Beethovens Bagatellen, die alles andere als Bagatellen sind. An einem Fenster, das in ein fernes, lichtes, gegenwärtiges Paris hinausgeht, steht der Flügel. Einmal spielt ein längst berühmter, früherer Klavierschüler (der Pianist Alexandre Tharaud) auf eine Bitte hin etwas, das er lange nicht mehr gespielt hat, und er spielt es auswendig, ein Geschenk. Dann werden CDs aufgelegt und gestoppt, weil die Musik ausgedient hat sogar als Trost, und danach ist umso mehr die Stille zu hören. Und es gibt eine Tochter namens Eva (Isabelle Huppert), auch sie ist Musikerin; aber in ihr klingt nichts, als es um das Begreifen ihrer Eltern geht, und vielleicht bricht sie deshalb einmal hemmungslos in Tränen aus. Schluchzen, Lachen, Stammeln, Singen: Ja, man könnte diesem Film, der so unvergleichlich viel für das Sehen tut, auch bloß lauschen wie einem Nocturne, und er wäre auf andere Weise vollständig.
Nimmt „Liebe“, der so genau einen Stationenweg geht, ohne ihn bloß abzubilden, die Angst vor dem Tod? Liebe jedenfalls hilft vielleicht. Gelebte Liebe. Irgendwann geht der Mensch hinaus in die Natur und verschwindet in ihr. Anne macht diesen Weg und setzt dabei unmissverständliche Zeichen. Georges geht ihn später, so wie man eine Wohnung verlässt und dabei den Mantel fast vergisst. Könnte ja sein, dass eine Stimme einen an den Mantel erinnert, eines Tages, und allein sie löst das Alleinsein auf.
Ab Donnerstag im Blauer Stern Pankow, Capitol, Cinemaxx, Delphi, FaF, International, Kulturbrauerei und Yorck; OmU im Cinema Paris und Hackesche Höfe
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