Volksbühne: Alle Räder drehen still
Wenn Väterchen Frank geht: Über das seltsame Geschichtsverständnis der Volksbühne und ihres Kultursenators Klaus Lederer.
Im Intendantenzimmer der Volksbühne hängt ein Bild von Josef Stalin. Es hängt da schon sehr lange, und es wird wohl erst von der Wand genommen, wenn Frank Castorf am Ende dieser Spielzeit seinen Posten räumt. Es wird dann ein Vierteljahrhundert gewesen sein, 25 Castorf- Jahre. Rekord in der Berliner Theatergeschichte! Eigentlich waren es sogar noch zwei Jahre mehr, denn Frank Castorfs famose „Räuber von Schiller“ hatten im September 1990 Premiere, und die gaben damals den Ausschlag. Danach war im Berliner Theater nichts mehr wie zuvor. Außer den Stasi-Seilschaften am Deutschen Theater und der Bürokratie der Staatlichen Schaubühnen im Westen hatte sich ohnehin alles verändert. Castorf & Co. waren das Gesicht der neuen Zeit.
Gesicht, Geschichte, Gefühl: Darum geht es schließlich bei dem Streit um das berühmte Rad der „Räuber“ auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Der verhärtete Volksbühnen-Kern will es abbauen. Ein großer Teil der Öffentlichkeit würde es gern behalten. Es gehört zum Stadtbild, man hat es lieb gewonnen, es hat seinen Platz. Doch das Symbol der großen Zeit der Volksbühne soll der neuen Intendanz nicht in die Hände fallen. Sonst würde eine Kontinuität suggeriert, die es nicht gibt, lautet die Argumentation. Wenn Väterchen Castorf nicht mehr im Volksbühnen-Kreml sitzt, dann kippt auch seine Räuber-Statue. Das ist postmoderner Stalinismus.
Zu den Linientreuen gesellt sich gern Klaus Lederer, Berlins Kultursenator. Er findet, das Rad könne weg, da Castorf ja auch weggeschoben wurde vom vorigen Senat. Lederer sieht das Räuber-Rad künftig im Stadtmuseum. Was für eine absurde Idee! Ebenso gut könnte man daneben auch eine Castorf-Wachsfigur aufstellen. Lederer verhält sich in der Volksbühnenfrage alles andere als verantwortungsvoll. Er kann und will sich nicht mit Castorfs Nachfolger Chris Dercon einigen und wünscht ihm im Grunde tatsächlich: Hals- und Beinbruch. Fahr das Ding an die Wand, wir mögen dich nicht, wir haben dich nicht geholt. So wirkt diese Kulturpolitik. Sie dient nicht der Stadt und der Volksbühne als Institution, sondern ist reine Klientelpolitik. Lederer zeigt ein sonderbares Geschichtsverständnis und tut so, als gehöre die Volksbühne einem kleinen Kreis von Linken.
Warum nur verläuft der Wechsel so schwierig und schmerzhaft? Die Volksbühne ist das vorerst letzte Theater, das historische Deutungshoheit hat. In den siebziger Jahren galt das, bei allen Unterschieden, für Peter Stein und die Schaubühne. Auch Dieter Dorn und die Münchner Kammerspiele, Claus Peymann in Bochum (dort mit vielen Künstlern aus der DDR) und das Schauspiel Frankfurt am Main haben Geschichte geschrieben, die mehr als Theatergeschichte war. Sie wirkten in die Gesellschaft hinein, stilbildend. Und als es nicht mehr ging, als diese Theater nicht mehr so gut waren, war es auch gut. Das liegt im Wesen der Theaterkunst. Sie spielt auf Zeit. Sieben, acht, vielleicht zehn Jahre, länger hält sich ein herausragendes Ensemble, eine Intendanz nicht an der Spitze. Frank Baumbauer, Castorfs Mentor, hat sich in München und Hamburg exakt daran gehalten. Er hörte auf, als es am besten lief.
Die Volksbühne hat eine andere Realität geschaffen - ihre eigene
Kein Theater konnte freilich die geschichtsmächtige Position so lange behaupten wie die Volksbühne. Sie hat eine andere Realität geschaffen – ihre eigene. Sie gab sich östlich, aber es war entscheidend viel Westen drin. Ihr Ost-Gefühl war ein nachgeholtes, artifizielles. Die Volksbühne wird bis heute als Ensembletheater gefeiert. Dabei hat sie schon lange kein festes Ensemble mehr, sondern regelmäßige Gäste. Es gibt in Festanstellung nur noch eine Handvoll sogenannter Unkündbarer, die kaum spielen, weil sie entweder nicht wollen oder nicht mehr gewollt sind.
Durch die öffentliche Diskussion schwirren lauter falsche Begriffe, Missverständnisse. Die Volksbühne ist ein politisches Theater? Sie beschäftigt sich in Wahrheit mit sich selbst. Und die Sache mit Berlins teurer Mitte: Die Volksbühne hat sich zur letzten Bastion gegen die Gentrifizierung stilisiert. Dabei war und ist sie ein Motor für Investitionen. Suhrkamp wird in der Nachbarschaft sein neues Verlagshaus bauen. Und Chris Dercons Programm zieht gewiss ebenso ein internationales Kunstpublikum an. Was ist daran verwerflich?
In der halbamtlichen Volksbühnenpresse, der „Berliner Zeitung“, hieß es kürzlich wieder, Castorf werde verjagt. Nach 25 Jahren ist das wirklich funny und fake news. Mehrfach wurde Castorfs Vertrag verlängert. Und es gab elend lange Jahre, da schien er das Interesse an der Volksbühne und seiner Intendanz komplett verloren zu haben. Er inszenierte viel auswärts, und erst als es gar nicht mehr anders ging, als das Angebot kam, 2013 den „Ring“ in Bayreuth zu inszenieren, wurde eine Kürzung des Intendantengehalts vereinbart. Der Wowereit-Senat zeigte sich stets äußerst großzügig. Und das war auch in Ordnung, denn die Volksbühne war das beste Theater.
Man kann die Volksbühne nicht in ein Privatbesitztheater umwandeln
Aber daraus lässt sich kein Ewigkeitsanspruch ableiten. Damit kann man die Volksbühne nicht in ein Privatbesitztheater verwandeln, mit Bezügen auf Lebenszeit. Wer aber diese Ansprüche bezweifelt, wird zum Verräter. Es ist ein trauriger Anblick, wie Teile der Volksbühne ihre verbliebene Deutungsmacht dazu benutzen, die eigene Geschichte zu verkleinern und zu verdrehen. Das Haus müsse Chris Dercon „besenrein“ übergeben werden, also ohne Rad, frei von Geschichte und ihren Hinterlassenschaften. Daraus spricht eitle Kränkung und Beleidigtsein. Dazu passt der eklige schwarze Teerüberzug auf dem Boden des Zuschauerraums in den beiden Abschiedsspielzeiten.
Gehört die Geschichte der Volksbühne nicht uns allen, die wir seit der Wende dort geschaut, gelernt, geliebt, gelitten haben? Deren wichtigster Anlaufpunkt für Theater und Debatten sie war und bleiben könnte? Die wir endlose Lebenszeit dort verbracht haben, beglückt, genervt, aufgewühlt, bedient, befeuert? In wilden Zeiten spielen die Akteure, als gehe es um Leib und Leben und Verstand. So war das in den frühen Jahren der „Republik Castorf“ (Titel eines Buchs im Alexander Verlag). Aber von dem souverän-ironischen Verhältnis zur Geschichte spürt man nichts mehr. Wo Energie und Bewegung pulste, wohnen jetzt Geister, die nicht weichen wollen. Es ist ja auch verdammt schwer, ein ganzes Leben aufzugeben.
Also macht schon mal die Drehbühne an. Volle Kraft retour. Wir spulen zurück auf 1992, 1990, 1989. Um ein Uhr nachts wird die Uhr zurückgedreht auf sieben Uhr, denn Castorf-Abende sind verdammt lang. All die Getränke werden ungetrunken gemacht, die man in zweieinhalb Jahrzehnten Volksbühne heruntergekippt hat. Hui, was für ein Spaß! Vorwärts nimmer, rückwärts immer. Bei Heiner Müller reitet die Geschichte auf toten Gäulen ins Ziel. An der Volksbühne rollt sie sich selbst auf.