"Winterreise" am Maxim Gorki in Berlin: Ach, wie deutsch ist uns zumute
Geflüchtete suchen das romantische Deutschland - und finden: Pegida und Polyamorie. Yael Ronen und das neue Exil-Ensemble inszenieren am Gorki eine entwaffnend komische "Winterreise".
In einem Interview wurde die israelische Regisseurin Yael Ronen einmal gefragt, ob es etwas gebe, worüber sie keine Witze machen würde. Nein, hat die Meisterin der Deeskalationskomik geantwortet. Wenn ihr vor irgendetwas der Humor versagen würde, hieße das für sie, dass sie davor Angst hätte. Offensiver Entwaffnungswitz ist denn auch die wichtigste Reisedroge, die das neu gegründete Exil-Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters auf seiner „Winterreise“ unter Ronens Regie mitführt. Garantiert ein hilfreicher Stoff, wenn man zum Beispiel an einem Montagabend per Bus in Dresden einrollt und auf dem Weg zum Hotel durch eine Pegida-Demonstration muss.
Denn das Exil-Ensemble, bestehend aus Neuberliner Profi-Schauspielern aus Afghanistan, Syrien und Palästina, erzählt zum Auftakt von seiner Bustour durch fünf deutsche Städte plus Zürich. Seit Ende 2016 sind sie alle fester Bestandteil des Gorki und werden in den kommenden beiden Spielzeiten sowohl in hauseigenen Produktionen mitwirken als auch eigene Projekte entwickeln. Und Stopp Nummer eins ist Dresden.
Ist Fatima Merkels Zweitname?
Per Videoeinspielung (Benjamin Krieg) erscheinen Semperoper und Fürstenzug im Hintergrund. Die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ zwingen die Reisenden zum Verbleib im Hotel. Von dort aus kommentieren Hussein al Shatheli und Karim Daoud in Schwejk’scher Manier die Plakate und Slogans der unter ihrem Fenster vorbeimarschierenden Pegidisten: „Fatima Merkel? Ich dachte, sie heißt Angela?“ Hm. Große Irritation. „Vielleicht ihr Zweitname, wie bei Barack Hussein Obama?“ – „Ich wusste gar nicht, dass sie Muslima ist.“
Auf der nächsten Station wird es stiller. Sie verursacht der kompletten Reisegruppe Albträume. Es geht nach Weimar. Buchenwald. Als Reiseleiter fungiert der Schauspieler Niels Bormann, der, wie häufig bei Yael Ronen, so etwas wie den archetypischen Deutschen mit bewusst hohem Klischeegehalt und starker Neigung zum Tritt ins Fettnäpfchen spielt. Und natürlich beginnt „the Niels“, wie die Kollegen ihn gern mal nennen, sich spätestens an dieser Stelle berechtigterweise den Kopf zu zermartern, ob seine mit Bedacht ausgeklügelte Reiseroute nicht eigentlich eine völlige Fehlleistung ist.
„Niels hat gesagt, er will uns das romantische und das klassische Deutschland zeigen“, sagt etwa Mazen Aljubbeh befremdet. „Aber dann zeigt er uns Pegida und Buchenwald.“ Dass der in Syrien aufgewachsene Schauspieler sich auf dieser Busreise nicht unbedingt mit Tod, Krieg und Gewalt konfrontieren will, hat „the Niels“ irgendwie nicht bedacht. Einer der Architekten des KZ Buchenwald, hat Mazen Aljubbeh in der Zeitung gelesen, baute später Gefängnisse in Syrien, die das Regime bis heute nutzt. Andererseits: Was kann „the Niels“ dafür, wenn die Pegida- und Buchenwald-Realität ihm ständig einen Strich durch die romantisch-klassische Rechnung macht?
Der deutsche Reiseleiter Niels liebt ovale Räume
Also besser nach München? In die Allianz-Arena? „Eigentlich mag ich Fußball nicht so gern“, plaudert Niels fröhlich aus, „aber ich liebe ovale Räume.“ Logisch, dass auch die Führung durchs leere Bayern-Stadion bei gefühlten minus zwanzig Grad und streng eingezäuntem Rasen bei den Kollegen nicht zwingend identische Glücksgefühle auslöst. Stattdessen: massive Entgrenzungsimpulse oder zumindest aufrichtige Ratlosigkeit. („Ach so, die Spieler sind gar nicht da?“)
Die Tatsache, dass die Schauspielerin Maryam Abu Khaled in einem durchgehenden Nebenhandlungsstrang hochnotkomisch mit einem Musterbeispiel deutscher (oder zumindest Berlinischer) Beziehungsunverbindlichkeit kämpft, macht die Befindlichkeitslage nicht besser: Dieser großartige Typ „vom Deutschen Theater“, den sie vor ihrer Abreise in der Schlange der „Deutschen Bank“ kennengelernt hatte, ist leider ein glühender Verfechter der Polyamorie. Und, wo wir schon mal dabei sind: So merkwürdig wie die Sache mit den deutschen Beziehungsmustern ist auch die mit dem harten, trockenen Klopapier!
Sicher hätte man diese deutsch-schweizerische „Winterreise“ auch als Tragödie oder zumindest als Hardcore-Drama erzählen können. Und sicher wären dann Themen wie Pegida noch mal anders zur Sprache gekommen und die Reibungsflächen über „offene Beziehungen“ oder Toilettengewohnheiten hinausgegangen. Aber Yael Ronen und das Exil-Ensemble haben eine klare und plausible Entscheidung für den Entwaffnungshumor getroffen.
Apropos Perspektive: Der Abend beginnt damit, dass das neue Ensemble seinen alteingesessenen Kollegen Niels Bormann umringt: „Du teilst nichts mit uns, stellst uns nie deinen Freunden vor. Es geht immer um uns, um unseren Hintergrund, unsere Kultur, unsere Geschichte(n).“ Man kann das auch als unaufgeregten Seitenhieb auf einige Theaterprojekte mit Refugees verstehen, die, möglicherweise noch nicht mal bewusst, eher Relevanzvampirismus betreiben als sich wirklich mit ihren Protagonisten konfrontieren zu wollen. So gesehen hat das Exil-Ensemble vom Gorki den Spieß jetzt umgedreht und Dresden, Mannheim, Hamburg, Zürich und Co. schlaglichtartig aus seinem Blickwinkel erzählt. Und zwar so, dass man auf die nächsten Projekte sehr gespannt ist.
Wieder am 13. und 26. April, 19.30 Uhr
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