„Können wir nicht über was anderes reden?“ von Roz Chast: Abschiedsbilder
Zum Heulen traurig, zum Schreien komisch: Roz Chast hat mit dem Buch „Können wir nicht über was anderes reden?“ den Abschied von ihren Eltern verarbeitet.
In der riesigen, wohlsortierten Buchhandlung in Berlin-Mitte wird man wider Erwarten nicht in der Comic-Abteilung, sondern im Bereich „Psychologie“ fündig: Hier stehen gleich mehrere Exemplare der ersten längeren Comicerzählung der für das Magazin „New Yorker“ arbeitenden Cartoonistin Roz Chast. „Können wir nicht über was anderes reden?“ - das kürzlich von der Tagesspiegel-Jury unter die besten Comics des vergangenen Jahres gewählt wurde - ist damit eines von vielen (Sach-)Büchern, die sich einem unbequemen Thema widmen, das uns gleichwohl alle betrifft: Altern und dem Sterben. Einerseits ist diese Einordnung erfreulich, weil es bedeutet, dass nun auch diesem Medium zugetraut wird gleichberechtigt am Diskurs teilzunehmen. Ein wenig bitter ist allerdings, dass davon ausgegangen werden kann, dass Comic-affine Leser so nicht zwangsläufig auf den Titel stoßen. Ambivalent also.
Ambivalenz charakterisiert auch das Verhältnis der autobiografischen Erzählerin zu ihren Eltern. George und Elizabeth sind beide über neunzig, ein eingespieltes Team, und wollen lieber „über was anderes reden“ als den bevorstehenden Tod. Als Einzelkind steht Roz dieser Herausforderung ganz allein gegenüber. Was tun, wenn klar ist, dass die Kräfte allmählich schwinden? Wenn die Eltern noch immer in New York wohnen, man selbst aber sein erwachsenes Leben in Connecticut nicht aufgeben will? Wenn man nicht weiß, ob das Geld für eine würdige Unterbringung reicht? Es aber nicht vorstellbar ist, die Eltern bei sich aufzunehmen?
Indiskret, pietätlos und unerquicklich? Im Gegenteil!
Was den Comic ausmacht ist sein Mut. Roz Chast zeichnet kein idealisiertes Bild ihrer Familie, keine rührigen Abschiedszenen, in denen alle die passenden letzten Worte finden. Einiges – etwa zwischen Tochter und Mutter – bleibt ungesagt. Und genau darüber wird dann in Wort und Bild offen gesprochen: von der schwierigen Liebe, die Familienbande prägt; von der Ohnmacht aller Beteiligten angesichts des körperlichen und geistigen Verfalls; von Gewissensbissen, wenn man sich als „Rabentochter“ fühlt.
Chast illustriert das Chaos, das intensiven Beziehungen innewohnt; und das durch das unausweisliche Abschiednehmen-Müssen potenziert wird. Und sie protokolliert – auch mit Hilfe von Fotos – das Chaos der Wohnung, in der zwei ganze Leben verbracht wurden, sowie ihre Überforderung, diese ordnen zu müssen: Schubläden voller Einmachglas-Deckel, Badezimmerschränkchen voller Einmachgläser. Eindrucksvolles Chaos.
All das mag zunächst indiskret, pietätlos und insgesamt sehr unerquicklich klingen. Ist es aber nicht, im Gegenteil: Die ungeschönte Schilderung gibt Raum für liebe- und humorvolle Passagen, die alles andere als effektheischend wirken. In der Charakterisierung der skurrilen Eigenarten ihrer dominanten Mutter beispielsweise schwingt meistens leise Bewunderung mit. In herausfordender Pose, Hände auf den Hüften, verkündet diese, ob des nahenden Todes ihres Gatten: „Ich habe Dad gesagt, er wird mit mir zusammen 100, und wenn ich ihn AN DEN HAAREN HINTER MIR HERSCHLEIFE. […] Jetzt ist immer diese Dame vom Hospiz da. Die ist ja ganz nett, aber ich hab ihr gesagt, ich will KEINE LANGEN GESICHTER. Ich will POSITIVES DENKEN!!! Und keinen Chor, der 'Kumbaya' singt.“
Vater, Mutter, „Kind“ verfügen alle über einen ausgeprägten Sinn für Ironie und Galgenhumor. In den für Roz Chast charakteristischen schnodderigen Cartoonzeichnungen (eine Auswahl ihrer Arbeiten für den New Yorker und ein Homestory-Video findet man hier, ein langes Interview mit dem Comics Journal hier) kommt diese Tragikomik besonders gut zur Geltung. Sie erinnern an die Zeichnungen der amerikanischen Comicautorin Linda Barry und des britischen Cartoonisten Quentin Blake, der einigen als Roald-Dahl-Illustrator bekannt sein dürfte. Anders als bei Blake (und Dahl) sind die Hauptpersonen aber keine Karikaturen, sondern „round characters“. Den Eltern ist das Buch gewidmet, den Eltern wird ein ambitioniertes Denkmal gesetzt. Und dem gelebten Leben in allen seinen Eigenschaften. Bittersweet, so würde man in der Originalsprache sagen. Zum Heulen traurig und schön; und zum Schreien komisch. Absolut lesenswert.
Roz Chast: Können wir nicht über was anderes reden?, Rowohlt, 240 Seiten, 19,95 Euro
Marie Schröer
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