Kurdenkonflikt in der Türkei: "Aber da sind Schützengräben"
Alltag mit Gewalt und Repression im Südosten der Türkei: Wie die Menschen in Diyarbakir leben, welche Erinnerungen sie haben und wie sie mit dem Leid umgehen.
Wie kann man von der Türkei erzählen, anders, tiefer, komplexer und näher an der Realität der Menschen? Wie von der Zerrissenheit, vom Schmerz, von den Ursachen der gegenwärtigen Konflikte? Wie von den Auswegen? Das waren einige der Fragen, die den Workshop begleiteten, den das Journalismus-Projekt „60pages“ im März 2017 in Istanbul veranstaltete, in Zusammenarbeit mit dem deutschen Außenministerium.
„60pages“ ist ein in Berlin angesiedeltes internationales Autoren-Netzwerk, das mit Texten, die länger sind als Magazingeschichten und kürzer als ein Buch, einen anderen Journalismus zu kultivieren versucht. Zwei der Texte, die aus dem Workshop heraus entstanden sind, werden an diesem Sonntag beim Internationalen Literaturfestival im Rahmen des Kongresses für Demokratie vorgestellt (19.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele).
Auch Nurcan Baysal, die Autorin des Textes, den Recai Hallaçwir aus dem Türkischen übersetzt hat und den wir hier in Auszügen drucken, wird dort lesen und diskutieren. Baysal, 1975 in Diyarbakir geboren, ist Autorin der unabhängigen Online-Tageszeitung „T24“. Der vollständige Text erscheint im Herbst bei „60pages“. Ihre Rekonstruktion eines Angriffs auf Diyarbakir im Jahr 2015 ist ein Dokument von persönlichem Mut. Und in Diyarbakir herrscht weiterhin der Ausnahmezustand.
Die Polizei hat die meisten Hauptstraßen mit Barrikaden gesperrt und kontrolliert sehr intensiv. Ich brauche vierzig Minuten, um ins Büro zu kommen. Normalerweise brauche ich für diesen Weg nur zehn Minuten. Ich komme an der schwarzen Tafel vorbei. „25. Tag“ steht darauf geschrieben. Ich gehe mit dem Schwamm drüber und schreibe: „26. Tag“. Heute ist der 26. Tag der Ausgangssperre. Es ist der 28. Dezember 2015.
Wir versuchen, der Außenwelt mitzuteilen, was hier geschieht. Zugleich bemühen wir uns, zusammen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivisten, die Schießereien und Bombardierungen zu stoppen. Wir setzen uns oft mit Vertretern des Staats und der kurdischen Bewegung zusammen.
Heute gibt es eine weitere Demonstration. Aber nicht vor dem Tor zum historischen Stadtkern Sur. Das ganze Gebiet ist gesperrt. Vor den Barrikaden stehen hunderte Männer von der Sondereinheit. Mit Kalaschnikows. Es ist verboten, Sur zu betreten. Und die, die dort eingesperrt sind, dürfen nicht hinaus. Familienmitglieder dürfen nicht mehr zueinander. Die Stadtmauern schützen die Bewohner von Amed – offiziell Diyarbakir – nicht mehr vor Angriffen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben. Sie üben jetzt eine ganz andere Funktion aus: Sie trennen die Menschen.
Anfangs waren es viele, die gegen die Verbote und die Belagerung Surs protestierten. Tagelang hat man versucht, in die Innenstadt zu gelangen. Es hat nichts gebracht. Jetzt nimmt die Zahl der Demonstranten von Tag zu Tag ab. Heute demonstriere ich mit. Ich habe aber auch Angst. Neulich haben sie wieder jemanden erschossen. Nach jeder Bombenexplosion protestieren wir mit dem kurdischen Laut: Ti-li-li-li-li.
Zuerst kommen Panzer und Wasserwerfer, dann die Ford Ranger
Nun fängt es wieder an, Routine: Zuerst kommen Panzer und Wasserwerfer. Sie greifen uns mit Tränengas an. Als die Menge sich nicht auflöst, rasen schwarze Ford Ranger auf uns zu. Vor denen hat man Angst, man rennt, sucht nach einem Versteck. Überall Tränengas. Schreie. Festnahmen, Verwundete. Zum Glück gibt es heute keine Toten.
Nach vielleicht zwanzig Minuten wird alles wieder normal. In der gewohnten Geräuschkulisse von fallenden Bomben und Geschossen fließt der Verkehr weiter. Ich laufe zum Rathaus neben dem Einkaufszentrum. Im Vorgarten des Gebäudes hat man ein kleines Zelt aufgeschlagen, daneben Stühle, auf denen ein paar Männer und Frauen sitzen. Ich erfahre, dass sie zum Gesundheitspersonal gehören. Mit ihrer Mahnwache protestieren sie gegen die Ausgangssperren und Belagerungen. Sie erzählen mir, dass sich ein Teil ihrer Kollegen nach dem belagerten Cizre aufgemacht hat. Doch nun müssen sie vor Cizre warten, weil man sie nicht in die Stadt lässt.
Ich gehe zu einem Zeitungskiosk. Mein Blick fällt auf die großen Mainstream-Zeitungen. Ich halte es nicht länger aus, bin vor Wut feuerrot angelaufen. „Du siehst es, Schwester“, sagt der junge Zeitungsverkäufer. „Der Staat bombardiert uns, jeden Tag werden unsere Kinder umgebracht, und die sagen immer noch: Aber da sind Schützengräben.“
Aber da sind Schützengräben. Das ist ein Satz, der in letzter Zeit unter den Journalisten, die diese Region aus dem Westen des Landes heraus betrachten, populär geworden ist. Auch manche Kurden, die aus der Region berichten, machen sich dieses Argument zu eigen. Seit Juli 2015, seitdem der Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK wieder begonnen hat, sind die Menschenrechte in der Region außer Kraft gesetzt. Gesetzeswidrig werden Ausgangssperren verhängt, hunderttausende Menschen müssen wochenlang hungern und dürsten. Orte mit 100 000 Einwohnern werden belagert und vom Staat bombardiert.
Die Menschen können ihre Angehörigen nicht sehen. Aber wir sind mit einer Argumentation konfrontiert, die all diese Grausamkeiten mit Schützengräben erklärt. Das ist ein Diskurs, der die Panzer, die Kanonen, die Scharfschützen und den Bombenhagel des Staats ausblendet. Auf tragische Weise bleiben wir in Dialogen stecken, die nichts Dialogisches mehr haben. Gespräche unter Türken und Kurden leiden unter der extremen Polarisierung und tragen nichts dazu bei, die Konfrontationen aufzulösen, sondern verfestigen den Konflikt. Ein typisches Muster solcher Gespräche läuft so:
„Der Staat hat Silvan 12 Tage lang bombardiert, in Brand gesteckt, dem Erdboden gleich gemacht.“ – „Aber da sind Schützengräben!“
„Der Staat bombardiert Friedhöfe, martert tote Körper“.
„Der Staat hat Nusaybin 14 Tage lang von Nahrung und Wasser abgeschnitten, kleine Kinder und schwangere Frauen auf ihren eigenen Balkonen erschossen.“ – „Aber da sind Schützengräben!“
„Der Staat hat in Cizre den Menschen nicht erlaubt, ihre Kinder zu begraben, hat die toten Körper der Kinder in Kühlschränke eingesperrt.“ – „Aber da sind Schützengräben!“
„Soldaten haben in Tendürek junge Kurden verbrannt, nachdem sie sie getötet haben.“ – Aber da sind Schützengräben!“
„Helin hatte Hunger. Als die Bäckerei wieder aufmachte, wollte sie dort schnell ein warmes Brot holen, sie haben ihr in den Kopf geschossen.“ – „Aber da sind Schützengräben!“
„Seit Tagen liegen die Leichen getöteter junger Kurden auf dem Boden, der Staat erlaubt nicht, sie zu bergen.“ – „Aber die heben Schützengräben aus!“
„Der Staat bombardiert Friedhöfe, martert tote Körper“. – „Aber da sind Schützengräben!“
Der Lärm von Bomben und Geschossen begleitet die Menschen, die Lebensmittel einkaufen. „Aber da sind Schützengräben!“ Der Satz hallt in mir nach wie das Rauschen und Knacken eines kaputten Radios.
Mehmet und seine Familie gehören zu den Eingeschlossenen der Altstadt. Ein Beamter sagt: „Wir können nicht in euer Viertel kommen, da sind Schützengräben.“ Seit Tagen warten Mehmets Familie und die Nachbarn darauf, dass die Polizei sie aus ihrem Viertel herausholt. Wegen der Bomben und Scharfschützen können sie ihre Häuser nicht verlassen. Viele Zivilisten wurden von Scharfschützen, die auf Dächern postiert sind, erschossen, als sie im Hof auf die Toilette gehen wollten. Es gibt kein Wasser, nichts zu essen, keinen Strom. Die Nachbarn helfen einander. Mehmet fühlt sich wie ein Gefangener.
Schließlich kommt ein Verwandter der Nachbarn in Begleitung von Polizisten. Die Beamten warten am Eingang der Straße. Mehmet und seine Familie verlassen das Haus, das jetzt zur Hälfte eine Ruine ist.
Eine Wohnung zu finden ist schwer
Mehmet erzählt: „Mein Vater und mein Neffe sind geblieben. Mein Vater sagte: Ich werde zu Hause sterben. Mein Neffe hatte Sympathien für die jungen Kämpfer. Er war 15. Nachdem wir weg waren, konnte ihn mein Vater nicht mehr überreden, zu Hause zu sitzen. Er ist rausgegangen. Er wurde umgebracht. Erst war er nur verwundet, wie wir später erfahren haben. Die Guerillakämpfer haben versucht, ihn zu verarzten, konnten ihn aber nicht retten. Wegen der Kämpfe konnte er erst nach drei oder vier Tagen beigesetzt werden.“ Und er erzählt: „Die Guerillakämpfer haben seinen Namen auf das Grab geschrieben, damit seine Angehörigen es finden können. Seine Familie hat eine Mahnwache gehalten, mit der Forderung, dass man seinen Leichnam findet. Fünf oder sechs Monate später hat ihn die Polizei aus dem Grab geholt. Sie brachten ihn nach Antep. Er wurde identifiziert. Aber wen sollen wir jetzt zur Rechenschaft ziehen? Dafür sind wir weder mächtig genug, noch wissen wir, an wen wir uns wenden sollen.“
Mehmet denkt laut nach. Vielleicht wollte sein Neffe zu der Familie dazustoßen. Oder er war neugierig, wollte sehen, was draußen passiert. Er war entkräftet, hatte keine Waffe. Und tatsächlich wurde sein Name auf die Liste der getöteten Zivilisten gesetzt. Überall in der Stadt sterben junge Menschen. Manche in Sur, andere außerhalb der Stadtmauern, wenn sie gegen die Gewalt in Sur protestieren.
Mehmet und seine Familie haben Sur verlassen. Jetzt brauchen sie eine Wohnung. Aber eine zu finden ist nicht leicht: „Wir waren plötzlich obdachlos. Meine Eltern gingen zu meiner Tante. Ich aber wollte nicht bei anderen Leuten wohnen, ich habe mich geschämt. Mal saß ich bei einem Freund, mal in einer Teestube die ganze Nacht. Ich habe auf den Morgen gewartet. Manchmal habe ich die Nacht auf der Straße verbracht. Ich war nicht der Einzige. Vielen Freunden von mir ging es ähnlich. Es hat geschneit.“
Es hat geschneit. Der Schnee hat in diesem Winter kein Erbarmen mit den Menschen.
Nurcan Baysal
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