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Schauspieler Gael García Bernal: „30 000 Menschen verschwanden einfach“

Argentinien, Chile, Mexiko – Gael García Bernal trifft überall auf Spuren der Gewalt. Ein Gespräch über Strafe, Versöhnung und die Hoffnung junger Lateinamerikaner.

Gael García Bernal, 34, ist einer der bekanntesten mexikanischen Schauspieler. Er war in „Amores Perros“ und „Y tu Mamá también“ zu sehen, gab den jungen Che Guevara und spielt nun in „No!“ – einem oscarnominierten Film, der sich um die Abwahl des Diktators Pinochet dreht und für den Oscar nominiert war.
García Bernal lebt mit Frau und zwei Kindern in Buenos Aires

Herr García Bernal, in einem Porträt wurden Sie einmal als „Backpacker des Kinos“ beschrieben.

Das passt.

Sie drehen in Hollywood, in Lateinamerika, in Europa. Empfinden Sie das als Glück?

Als großes Glück! Und als ein irres Privileg. Ich kann machen, was ich will, ich kann reisen, ich kann die Freiheit auskosten. Im Grunde wirklich wie ein Rucksacktourist.

Mit dem Unterschied, dass Sie nicht im Hostelmehrbettzimmer absteigen müssen.

Aber ich bin unterwegs, schlafe manchmal bei Freunden, manchmal im Hotel. Du machst neue Erfahrungen. Als Mensch und als Schauspieler ist das die Erfüllung eines Traums. Abgesehen davon, dass ich natürlich auch Schauspieler werden wollte, um Klischees durchzurütteln, rumzulaufen, wie ich Lust habe – und Frauen kennenzulernen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum ausgerechnet Sie so gut den typischen Vertreter einer globalisierten Generation verkörpern?

Ich bin einfach sehr durchschnittlich.

Das ist ein Vorteil?

Auf jeden Fall. Und ich bin eine Mischung aus Rassen, die ich selbst nicht genau entschlüsseln kann. Keine Ahnung, was da alles zusammengekommen ist! Ich kann mich überall bewegen. Ich bin übrigens stolz darauf, Mestize zu sein. Über solche Themen wird ja in Mexiko nicht viel geredet.

Sie haben als Jugendlicher einige Monate bei den Huicholen-Indianern in der Sierra Madre gelebt und ehrenamtlich gearbeitet. Was haben Sie dort gelernt?

Die Huicholen haben mich in ihre spirituellen Feiern und ihre Musik eingeweiht und mir damit das Gefühl gegeben, dass ich zu Mexiko gehöre. Zu meinem Land. Diese Verbundenheit habe ich dort gespürt, und zugleich wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich reisen möchte, mein ganzes Leben lang.

Einer der ersten Filme, „Y tu Mamá también“, war ein Roadtrip durch Mexiko. Das ist gute zehn Jahre her, seitdem ist Ihre Heimat immer tiefer im Drogenkrieg versunken. Sie leben mit Ihrer Familie inzwischen in Buenos Aires. Was lösen die Nachrichten aus Mexiko in Ihnen aus?

Daran zu denken, macht mich fertig. Dieser absurde Krieg, diese Gewalt!

Sie sehen keinen Anlass dafür, optimistisch zu sein?

Doch, natürlich. Meine Generation und die Jüngeren, ich glaube, wir werden vieles anders machen, ethischer handeln. In solchen Situationen, wo alles den Bach runtergeht, kann auch das Beste im Menschen zum Vorschein kommen. Ich glaube fest an den Wunsch zur Versöhnung. Daran, dass die Fröhlichkeit wiederkommt.

Dass die Fröhlichkeit wiederkommt? Das ist ein Zitat aus Ihrem aktuellen Film: „No!“.

Ja, und es ist zugegeben eine sehr einfache Botschaft.

„No!“ handelt von der Volksabstimmung 1988 in Chile, die zur Abwahl des Diktators Augusto Pinochet führte. Sie spielen den Werber René, er entwirft die Kampagne der Opposition, die erreichen will, dass die Chilenen mit „Nein!“ gegen Pinochet stimmen. Der Slogan lautet: „Chile! Die Fröhlichkeit steht kurz bevor!“

Als ich den echten Fernsehwerbespot der Kampagne zum ersten Mal sah, ging es mir wie allen anderen, die ihn sich anschauen: Er gibt einem einfach ein sehr schönes Gefühl.

Der Spot sieht aus wie eine schier endlose, bonbonfarbene Werbung für die 80er Jahre: Weichzeichner, lächelnde Menschen mit Blumen, mit Dauerwellen, mit Stirnbändern, eine Aerobic-Tanzgruppe…

Ja, man muss auch lachen, wenn man ihn heute sieht. Die 80er Jahre sind ästhetisch eben immer noch sehr lustig. Doch diese Kampagne sollte ja auch gute Laune machen, witzig sein, sympathisch. Über die Kampagne von Pinochets Anhängern, die Kampagne „Sí!“, lachen wir heute auch – aber nur aus der Rückschau. Ende der 80er vermittelte sie Terror und Hass.

Pinochets Anhänger spielten mit der Angst, dass mit dem Rücktritt des Diktators der Terrorismus und die Rache der Linken Chile ins Chaos stürzen würden…

… und auch die Opposition wollte ursprünglich nicht die fröhliche Zukunft des Landes zeigen, sondern mit Bildern des Staatsterrors Pinochets für seine Absetzung argumentieren.

Ihre Filmfigur René sagt im Film zu dieser Idee: „Das verkauft sich nicht!“ Lässt sich eine Zukunft, in der noch alles möglich ist, besser bewerben als die Vergangenheit?

Selbstverständlich ist es nicht immer so, dass sich die Vergangenheit nicht verkaufen lässt. Aber im Fall Chiles hätte man mit einer Darstellung der gewalttätigen Vergangenheit diese Abstimmung vielleicht verloren. Es war klar, dass die Opposition möglichst viele Leute dazu motivieren musste, überhaupt abzustimmen. Viele Leute, die gegen Pinochet waren und auf der Seite der „No!“- Kampagne standen, haben ja nicht daran geglaubt, dass das Referendum etwas bewirken würde. Die Leute, die die Kampagne entwarfen, spürten, dass die Chance größer war, wenn die Fernsehspots fröhlich sind, versöhnlich, ohne Hass und Gewalt.

Den Clip findet man leicht bei Youtube. Wundert es Sie manchmal, dass diese Idee erfolgreich war?

Ja, unglaublich. Es war eine fantastische Kampagne, die in unglaublicher Weise funktioniert hat.

97 Prozent der Chilenen stimmten am Ende ab, 55 Prozent gegen Pinochet. Ein Jahr später gab es freie Wahlen. Damit hatte Chile seine Demokratie, die Pinochet durch den Putsch gegen Salvador Allende 1973 beendet hatte, wiedererlangt.

Die ganze Welt weiß, wie Pinochet an die Macht kam – kaum jemand weiß, wie die Chilenen ihn gestürzt haben. Im Gegensatz zu einem brutalen Putsch ist die Demokratie sehr leise in ihren Errungenschaften. Dieses Referendum war eines der größten Feste der Demokratie. Für mich war das ein wichtiger Grund, diesen Film zu machen. Er erzählt eine unglaubliche Geschichte, die zwar sehr spezifisch chilenisch ist, aber zugleich universell: Es geht um den Zusammenhang zwischen Demokratie, Politik, Fernsehen und Werbung.

Es muss schwer für Pinochets Gegner gewesen sein, den Weg der Versöhnung einzuschlagen: Nach dem Putsch 1973 ließ Pinochet Anhänger Allendes ermorden, Tausende wurden inhaftiert, gefoltert oder flüchteten ins Exil. Die Wunden waren tief.

Und es gab für sie keine Gerechtigkeit. Es gibt sie bis heute nicht, diese Wunde ist nicht verheilt. Pinochet hat auch immer noch viele Anhänger in Chile, es gibt Menschen, die ihn wählen würden, wenn er noch lebte. Die sagen das auch ganz offen. Chile ist ein politisch sehr gespaltenes Land und von allen OECD-Ländern auch noch das mit der größten sozialen Ungleichheit. Mexiko kommt gleich dahinter. Nirgendwo ist der Unterschied zwischen Arm und Reich so eklatant wie in Chile. Das hat viel damit zu tun, wie Pinochet mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik das Land verändert hat.

Viele lateinamerikanische Länder haben Militärdiktaturen hinter sich. Bislang hat nur Argentinien begonnen, das Unrecht konsequent aufzuarbeiten. Sie als Wahl-Argentinier: Was bedeutet das für eine Gesellschaft?

Ohne die Aufarbeitung ist wirkliche Versöhnung nicht möglich. Erst durch die Bestrafung der Täter fühlen sich auch die Opfer wieder dem Land und der Gesellschaft zugehörig. In Argentinien ist die Wunde ja noch viel tiefer als in Chile: 30 000 Menschen verschwanden einfach, das ist eine unbegreifliche Zahl. Kinder wurden geraubt und von Militärs adoptiert.

Viele lateinamerikanische Länder haben Ähnliches erlebt: Brasilien, Paraguay, Uruguay…

Nirgendwo war es so schlimm wie in Argentinien. Man muss es der argentinischen Regierung hoch anrechnen, dass sie die juristische Verfolgung der Straftaten möglich gemacht hat. In Lateinamerika haben wir uns viel zu sehr an Straflosigkeit gewöhnt, und dieses Gefühl der Straflosigkeit wirkt in einer Gesellschaft von ganz oben bis nach ganz unten.

Viele Argentinier und Chilenen flohen vor den Diktaturen nach Mexiko. Haben Sie als Kind und als Jugendlicher solche Familien kennengelernt?

Ja, in meinem Kindergarten und in der Schule. Argentinier, Chilenen, Paraguayer, Uruguayer... So bin ich mit Politik aufgewachsen.

Erinnern Sie sich an den Moment, in dem Sie verstanden, warum diese Menschen ihre Heimat verlassen mussten?

Nein, es gab keine spezielle Sekunde, in der ich das begriffen habe. Mir war klar: Sie sind politisch verfolgt und können nicht in ihre Heimat zurück. Ich wusste immer, wer Pinochet ist, die Diktatoren waren in meiner Kindheit präsent. Natürlich habe ich, als ich das erste Mal nach Chile oder Argentinien reiste, mehr über die Geschichte gelernt. Dennoch hatte ich schon als Kind eine Idee davon.

Viele Ihrer Filme beschäftigen sich mit lateinamerikanischer Geschichte und Gegenwart: Sie haben Che Guevara gespielt, „Und dann der Regen“ verknüpft die Kolonisierung Amerikas mit gegenwärtigen sozialen Unruhen, „Amores Perros“ zeichnet ein Bild der mexikanischen Klassengesellschaft. Gibt es etwas wie ein lateinamerikanisches Zusammengehörigkeitsgefühl?

Natürlich verbindet uns alle die Sprache, sie erleichtert den kulturellen Austausch. Aber darüber hinaus gibt es ein solches Gefühl, nur habe ich keinen verdammten Schimmer, wie ich es beschreiben könnte... Man fühlt es irgendwie. Ich zum Beispiel möchte unbedingt, dass meine Kinder in Lateinamerika aufwachsen. Weil ich glaube, dass man auf diesem Kontinent spürt, dass die Welt größer ist als dein eigenes Land. Wer hier lebt, orientiert sich nicht nur nach innen, sondern auch nach außen. Ich habe zum Beispiel als Kind die wichtigen politischen Konflikte in meinem Land mitbekommen, wie den Aufstand der Zapatisten, doch ich hatte auch immer den Drang, nach außen zu schauen. Lateinamerika ist Mittelerde. Ich glaube, hier wird der Kampf um die Zukunft der Welt ausgefochten.

Was meinen Sie damit?

Das Narrativ. Die Erzählung der USA und Westeuropas ist geschrieben. Aber in Lateinamerika, in Asien und Afrika wird es noch viele Überraschungen geben. Und es sind unendlich größere Territorien. Sie sind sehr unterschiedlich, sehr jung, nicht so satt wie der Westen. Und mit Ausnahme der Chinesen und Japaner sind die Menschen, die dort leben, nicht in dem Gefühl aufgewachsen, zu einem Imperium zu gehören oder zu einer dominierenden Macht.

Ihre Filme „Babel“ und „Mammut“ haben die Zusammenhänge zwischen diesen ungleichen Welten aufgezeigt: Handlungen in der Ersten Welt haben Konsequenzen in der Dritten, wenn zum Beispiel ein Paar in den USA ein guatemaltekisches Kindermädchen beschäftigt, das die eigenen Kinder in der Heimat zurücklassen muss. Ist es Ihnen wichtig, auf solche globalen Verknüpfungen hinzuweisen?

Diese Zusammenhänge sind heute Realität. Sie werden stärker und uns immer bewusster. Aber ob sie mich wirklich interessieren? Nicht allzu sehr. Was mich interessiert, ist, groß gesagt, das Gemeinwohl. Dazu möchte ich beitragen. Ich versuche es zumindest, und wenn ich es vergesse, dann ermahne ich mich.

Herr García Bernal, das klingt ziemlich abstrakt.

Ist es ja auch. Jetzt wollen Sie sicher wissen, wie sich das in meiner Arbeit niederschlägt? Auf tausend Arten. Weil Ungleichheit eine Ungerechtigkeit ist. Und ich meine nicht nur Ungleichheit, was die Verteilung von Vermögen angeht: Es geht auch um soziale Rechte, um den Zugang zur Gesellschaft.

Sie haben für Amnesty International in Mexiko kurze Filme über mittelamerikanische Flüchtlinge gedreht, die auf dem Weg in die USA sind. Was haben Sie in den Gesprächen mit den Menschen stärker gespürt: Verzweiflung oder Hoffnung?

Mehr Hoffnung. Die Hoffnung gehört zum Gepäck. Und der Glaube. Diese Menschen wollen die Verzweiflung hinter sich lassen.

Haben Sie sich auch schuldig gefühlt, weil Sie selbst Grenzen problemlos überwinden können?

Naja, ich brauche auch ein Visum, wenn ich reise. Ich kann nicht wie jemand aus den USA all diese Grenzen einfach so überschreiten. Ich muss mich bei der Einreise in die Schlange stellen, ich muss mich erniedrigen lassen, muss nachweisen, dass ich genug Geld auf dem Konto habe. Als ob das etwas darüber aussagt, ob ich ein redlicher Mensch bin oder nicht! Ganz klar, Migration ist ein Klassenthema. Aber ich habe mich nicht schlecht oder schuldig gefühlt, als ich mich mit diesen Menschen unterhalten habe.

Sondern?

Ich fühlte mich privilegiert, weil ich sie ein Stück auf ihrer Reise begleiten konnte. Auf der Reise ihres Lebens, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie eine bessere Zukunft haben können. Und es ist eine Schande, dass sie diese Reise nicht einfach so machen können, friedlich, legal.

Stattdessen werden sie schon auf der Reise oft ausgeraubt, Opfer von Gewalt, sie müssen viel Geld für Schlepper bezahlen und leben dann in den USA in der Illegalität.

Ja, dort werden sie „illegal aliens“ genannt, herabwürdigender geht es nicht mehr. Doch das Schlimmste ist, dass sie, oft die Besten unserer Länder, ihre Heimat verlassen, um die bessere Zukunft in einem anderen Land zu suchen! Und dass diese Zukunft zumindest im Fall der Mexikaner dann tatsächlich nicht immer besser ist, als das, was sie in Mexiko erwartet hätte.

Sie haben in Mexiko eine Produktionsfirma gegründet und einige Kinofilme mitfinanziert, die sich mit den Flüchtlingen und dem Drogenkrieg in Mexiko beschäftigen. Bei aller Internationalität: Sie möchten der Welt von Ihrem Land erzählen?

Ja, da ist etwas, das mich nicht ruhen lässt: Ich will dazu beitragen, dass die unterschiedlichen Identitäten und Kulturen in meinem Land sich ausdrücken können. Es gibt dort tausende Geschichten, die unbedingt erzählt werden müssen. Da lege ich meine Kraft hinein, weil diese Geschichten zu meinem Land gehören. Das ist mein Benzin, der Stoff, der mich antreibt. Und der stammt aus Mexiko.

Interview: Anna Kemper

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