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Berliner Vedute. Auf dem Foto aus dem Eröffnungsjahr 1968 sind hinter der Nationalgalerie nicht nur die Matthäikirche und die Philharmonie zu sehen, sondern auch ein vom Krieg verschontes Mietshaus auf der Brachfläche zwischen den Solitären. Rechts im Hintergrund wächst die Staatsbibliothek empor.
© Archiv/dpa

Neue Nationalgalerie: 1200 Tonnen Leichtigkeit

Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie ist ein Monolith der Moderne. Bei den Planungen für die Vollendung des Kulturforum kommt ihr eine Schlüsselrolle zu.

Als die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe im September 1968 eröffnet wurde, stellte sich heraus, dass der Bau nicht gerade leicht zu bespielen war. Für Werner Haftmanns Mondrian-Retrospektive – angesichts der Genese von Mies’ Architektur eine einleuchtende Wahl – wurden die kleinformatigen Werke auf hängenden Wandpaneelen ausgestellt. In dem riesigen Raum kamen die Bilder nicht zur Geltung, auch lenkte der Anblick der Besucherbeine unterhalb der Paneele die Betrachter ab. Der Architekt räumte ein, dass es nicht einfach sei, in dem gläsernen Bau Ausstellungen zu präsentieren: „Aber es bieten sich großartige Möglichkeiten für neue Herangehensweisen.“

Es ist kein Geheimnis, dass der Bau weder für diesen Zweck noch für diesen Standort konzipiert worden war. Ludwig Mies van der Rohe hatte 1956 von der Spirituosenbrennerei Bacardi den Auftrag für ihr neues Hauptquartier in Santiago de Cuba an der Südküste der Karibikinsel erhalten. Bacardi-Präsident José M. Bosch wollte ein gläsernes Großraumbüro für seine Mitarbeiter, einen Probeausschank und Verkaufsräume im Untergeschoss. Die entscheidenden Entwurfsskizzen entstanden im April 1957 auf Briefbögen des Hotel Nacional de Cuba in Havanna. Als Mies und sein Mitarbeiter Gene Summers unter dem schützenden Vordach der Hotelveranda saßen, wurde ihnen klar, dass eine Glasfassade in diesem Klima tief verschattet sein musste. Also entwarfen sie ein weit auskragendes, quadratisches Dach, schwebend gehalten von nur zwei Stützen auf jeder Seite. Schreibtische, Büroschränke und zwei Meter hohe Raumteiler sollten den weit offenen Raum akzentuieren.

Kurz vor Baubeginn kam Fidel Castro an die Macht. Bacardi floh vor der Verstaatlichung und Mies’ Entwurf landete im Schrank seines Chicagoer Büros. Dort holte er ihn wieder hervor, als ihm Berlins Bausenator Rolf Schwedler im März 1961 zum 75. Geburtstag gratulierte und den Auftrag für die Nationalgalerie in Aussicht stellte. Der Entwurf blieb weitgehend unverändert, die geplante Betonkonstruktion wurde durch Stahl ersetzt und das Ganze etwas größer – die Raumhöhe wuchs von sieben auf 8,40 Meter.

Sicherlich hätte der Bau auch als gläsernes Großraumbüro in Kuba nicht sonderlich gut funktioniert. Auch dort hätte man irgendwann die Nutzung dem Gebäude angepasst und nicht umgekehrt. „Funktionen sind nicht beständig“, sagte Mies denn auch anlässlich der Grundsteinlegung 1964 in Berlin. Was er mit seinem Assistenten in Havanna skizziert hatte, entsprach dem, womit er sich seit Jahrzehnten beschäftigte. Ein klarer, stützenloser Raum, der vielfältig genutzt werden konnte. Und der außerdem die wesentlichen Elemente der Baukunst – Raum, Struktur, Material, Licht – bestmöglich zur Geltung brachte und einer inneren Logik unterwarf.

So zielte etwa das sorgfältig austarierte Verhältnis der Stützen zur Dachplatte auf größtmögliche Leichtigkeit: Mies verfolgte das Ideal einer puren Architektur, einer neuen, absoluten Klarheit auf der Tabula Rasa der zerstörten Stadt, einer Architektur, die sich auch als Gegenentwurf zum Expressionismus von Hans Scharouns Philharmonie verstand. Natürlich stand für die Idee vom architektonisch anspruchsvoll gestalteten Zentrum einer künftig vereinigten Hauptstadt auch Bruno Tauts Vision einer „Stadtkrone“ Pate. Entstanden nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, huldigte in deren Zentrum ein lichtdurchfluteter Glastempel der Religion einer reinen Architektur.

Was vielleicht auch Mies nicht in vollem Umfang ahnte, war die zusätzliche Funktion, die seiner Nationalgalerie in den nächsten Jahren zufiel. Durch die erhöhte Lage bot sich ein Rundumblick, ein Stadtpanorama, ein Belvedere, Schinkels „Großer Neugierde“ im Park Klein-Glienicke vergleichbar. Den Sichtkontakt zur umgebenden Stadt, die den Kunstbetrachter an seine Rolle als Bürger eines Gemeinwesens erinnert, gibt es auch in anderen Museumsbauten. Bei Schinkels Altem Museum übernahm das große offene Treppenhaus diese Aufgabe – und die anfangs mögliche Dachbegehung. Und bei Klenzes Alter Pinakothek in München war es der lange Wandelgang im Obergeschoss mit Blick auf die Stadtsilhouette – er fiel dem Krieg zum Opfer.

Von der Neuen Nationalgalerie aus fiel der Rundumblick auf die schwer beschädigte Matthäikirche, auf Scharouns Philharmonie, auf endlose Ruinenfelder und ein Stück Mauer am Potsdamer Platz. „Schaut auf diese Stadt“ –die Worte Ernst Reuters mögen damals manchem in den Ohren geklungen haben. Inzwischen haben Scharouns Staatsbibliothek, die Museumsbauten von Gutbrod (Kunstgewerbe- Museum) und Hilmer/Sattler (Gemäldegalerie), die Hochhäuser des Potsdamer Platzes und James Stirlings Wissenschaftszentrum dieses Spektrum der Erfolge und Misserfolge der Nachkriegsarchitektur komplettiert. Lauter Solitäre, die sich auf dem unseligen Areal des Kulturforums bis heute nicht zum Ensemble fügen wollen.

Um so wichtiger ist es, dass eine nun avisierte Galerie der Moderne hinter der Nationalgalerie wenigstens die von Mies und Scharoun gegründete Tradition fortsetzt, an diesem Ort Gegenwartsarchitektur auf der Höhe der Zeit zu wagen.

Von außen nach innen: Die besten Ausstellungen im Obergeschoss der Nationalgalerie sind auf die Weite des Raumes und seinen urbanen Bezug eingegangen, sei es Ulrich Rückriems brillante Manipulation einiger Bodenplatten 1999 oder Jenny Holzers farbig in die Stadt hinein leuchtenden Schriftbänder an der Decke (2001). Architekten wie Renzo Piano (2000) oder Rem Koolhaas (2003) breiteten instinktiv die Früchte ihrer Entwurfsarbeiten so aus, dass der städtische Hintergrund sichtbar blieb.

Auch in Zukunft werden Ausstellungen diesen großartigsten Raum der Moderne respektieren und eigens für ihn konzipiert werden. Und alle Pläne für einen neuen Museumsbau nebenan werden sein Panorama berücksichtigen müssen. Das heißt, nicht nur die Blicke auf, sondern auch von der Nationalgalerie. Natürlich wäre es leicht, den umgebenden Stadtraum im Sinne Hans Stimmanns dicht zu bebauen – ein Ansatz, der ansonsten zweifellos zur Stadtreparatur Berlins beigetragen hat. Mehr Mut wird es hingegen kosten, die ungewöhnliche Solitärlandschaft als Geschichtsdokument anzunehmen und der Nationalgalerie Luft zum Atmen und weite Blicklinien zu lassen. Was durchaus für einen spektakulären Museumsneubau spricht, zumal die großartige Gemäldegalerie vis-à-vis endlich einen angemessenen Eingangsbereich braucht statt der misslungenen Piazzetta. Dazwischen sollte sich ein Park erstrecken mit Hainen und Alleen, nicht unterbrochen von Straßen, Kreisverkehr oder Parkplätzen. Und das neue Areal könnte von einer deutlich verkleinertenPotsdamer Straße gesäumt werden.

Das Gegenstück zu Mies’ Freiraum für die Kunst- und die Stadtbetrachtung ist der umschlossene hortus conclusus, der wunderbare Skulpturengarten an der Rückseite der Nationalgalerie, der den Blick nach innen wendet, auf Skulpturen, Bäume, Sträucher, eine Wasserfläche. Ein Ort, der Ruhe vor der Stadt einkehren lässt. Diesen Garten heißt es mit dem Neubau nebenan aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken, ohne seine Abgeschiedenheit aufzugeben.

Mies van der Rohe kam zum Richtfest nach Berlin, 81-jährig und von einem schmerzhaften Hüftleiden gezeichnet. Der Kreis schloss sich – nur 500 Meter entfernt, auf der anderen Seite des Landwehrkanals, war auch seine eigene Wohnung gewesen: Am Karlsbad 24. Sie war schon vor dem Bombenkrieg Albert Speers Hauptstadtplanung zum Opfer gefallen. Hier hatte Mies von 1915 bis zur Emigration nach Amerika 1938 gewohnt und gearbeitet. Seine visionären Entwürfe für Glashochhäuser und ein Bürohaus aus Beton waren hier ebenso entstanden wie die Zeichnungen für den Barcelona Pavillon und das Haus Tugendhat in Brno – allesamt wegweisend für die Architektur des 20. Jahrhunderts.

Mies sah zu, als am 5. April 1967 ab acht Uhr morgens das Dach langsam von hydraulischen Pressen auf 8,40 Meter angehoben wurde. Der Vorgang dauerte zehn Stunden. Der Bauleiter, sein Enkel Dirk Lohan, berichtete, dass der Architekt an seinen Krücken langsam, aber zielstrebig unter das 1200 Tonnen schwere Stahldach humpelte, sobald genug Platz war. Er war voller Vertrauen auf die Berechnungen der Ingenieure. Schwerfällig drehte er eine Runde und sah sich um – begeistert, dass sein Idealbau an genau dieser Stelle Realität wurde. „Ich hatte fast schon vergessen, wie wunderbar es ist, Architekt zu sein“, sagte er.

Dietrich Neumann ist Professor of the History of Modern Architecture and Urbanism an der Brown University in Providence, Rhode Island, USA und zur Zeit Nina Maria Gorrissen Fellow an der American Academy in Berlin.

Dietrich Neumann

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