Ärztemangel: Zu klein für eine Lobby
In Berlin gibt es zu wenig Rheumatologen, sagen Vertreter dieser Arztgruppe. Erkrankte müssen lange warten, dabei könnten neue Methoden ihnen helfen. Doch für die Kassenärztliche Vereinigung besteht sogar eine Überversorgung. Eine Einigung in diesem Konflikt ist nicht in Sicht.
Marion Grabs rheumatische Erkrankung begann mit Schmerzen in den Schultergelenken und wanderte von dort in den ganzen Körper, vom Kiefer bis in die Fuß- und Fingerspitzen. „Meine Gelenke wurden so steif, dass ich kaum noch aufstehen konnte“, erinnert sich die 83-jährige Rentnerin. Armeheben und Laufen bereiteten ihr große Schwierigkeiten, und das, obwohl sie trotz ihres hohen Alters regelmäßig Sport trieb. Weder Hausarzt noch Orthopäde erkannten die Ursache. Blutuntersuchungen ergaben erhöhte Entzündungswerte, doch ein Rheumafaktortest fiel negativ aus. Marion Grab wurde deshalb nie zu einem Rheumatologen geschickt. Erst Monate später diagnostizierte ihr Zahnarzt eine Arthrose im Kiefer, eine Erkrankung des rheumatischen Formenkreises. Ob diese Erkrankung auch für die immer wiederkehrenden Schmerzen in anderen Körperteilen verantwortlich ist, weiß sie bis heute nicht.
Dass Patienten mit Rheumaerkrankungen nicht rechtzeitig zu einem Facharzt gelangen, ist keine Seltenheit. Die Krankheitsbilder sind komplex. Unter dem Begriff Rheuma verbergen sich mehr als 400 verschiedene Erkrankungen. Eine der häufigsten Formen ist die rheumatoide Arthritis, eine entzündliche Erkrankung der Gelenke. „Für einen Hausarzt ohne zweijährige rheumatologische Zusatzausbildung ist es deshalb schwierig, die richtige Diagnose zu erstellen“, sagt Frank Mielke, Facharzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie. Ein Rheumafaktor sei beispielsweise kein zuverlässiges Diagnosekriterium. Bei einem hohen Prozentteil der Patienten, die an einer Rheumaerkrankung litten, könne man diesen nicht im Blut nachweisen. Viel zu spät kommen die Patienten zu ihm in die Praxis. „Dabei wissen wir heute, wie wichtig eine frühe Diagnose für den Heilungsprozess ist.“ Doch der Früherkennung stehen zusätzlich die langen Wartezeiten im Weg. Die in Berlin niedergelassenen Rheumatologen beklagen seit langem die schlechte Versorgungssituation. „Wir behandeln täglich bis zu 250 Patienten“, sagt Mielke. In seiner Praxis in Hellersdorf bietet er dreimal die Woche eine Akutsprechstunde an, um dem hohen Patientenaufkommen gerecht zu werden. Wer zu ihm möchte, muss früh aufstehen und viel Zeit einplanen. Bereits vor Praxisöffnung stehen die Patienten vor dem Plattenbau Schlange. Patienten in anderen Stadtteilen haben diese Möglichkeit nicht. Sie müssen warten. Für manche bedeutet das zwei bis sechs Monate, in denen sich ihr Gesundheitszustand verschlechtert.
In Berlin leiden rund 150 000 Menschen an einer Rheumaerkrankung, ein Drittel davon an einer schweren entzündlichen-chronischen Erkrankungsform. Auch viele Jugendliche und Kinder sind betroffen, auch wenn die Krankheit im Volksmund immer noch als Altersleiden verharmlost wird. „Um eine Versorgung sicherzustellen, bräuchten wir etwa doppelt so viele Rheumatologen, wie es derzeit in Berlin gibt“, sagt Helmut Sörensen, Rheumatologe und Vorsitzender der Deutschen Rheuma-Liga in Berlin. Nach den Kriterien der deutschen Gesellschaft für Rheumatologie wird ein Rheumatologe für 50 000 Einwohner benötigt. In Berlin müsste es demnach etwa 64 Fachärzte geben. Aktuell gibt es nach Zählungen der Rheuma-Liga aber nur 34, darunter 23 fachinternistische und elf hausarztinternistische Rheumatologen, von denen nicht alle in Vollzeit tätig sind.
„Das Arbeitsaufkommen ist groß“, so Sörensen. Viele arbeiteten auch samstags und könnten trotzdem keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Besonders für die Erkrankten habe der Mangel an Fachärzten „fatale Folgen“. Nicht nur, dass sie lange Zeit wie Marion Grab mit ihren Schmerzen alleinegelassen werden. Die rheumatoide Arthritis greift die Knochen und Gelenke an. „Innerhalb von sechs Wochen können erste Löcher im Knorpel und Knochen entstehen“, sagt Sörensen. Im Röntgenbild sind diese Schäden erst Jahre später sichtbar. Doch über Ultraschall und MRT könne man schon früh die Folgen erkennen. Die Erkrankten leiden außerdem an Bewegungseinschränkungen bis zu Behinderungen, viele scheiden früher aus dem Beruf aus, ihre Lebenserwartung ist zehn Jahre geringer als die der Durchschnittsbevölkerung. „Heute könnten wir durch moderne Medikamente vielen Patienten dieses Schicksal ersparen“, so Sörensen. Beispielsweise über eine Therapie mit gentechnisch hergestellten Medikamenten, den sogenannten Biologika. Doch immer noch erhielten zu viele Patienten nicht rechtzeitig die richtige Therapie.
Dass es zu wenig Rheumatologen in Berlin gibt, liegt laut Sörensen keinesfalls an einem mangelnden Interesse unter den Medizinern an der Fachrichtung. „Viele Ärzte möchten gerne eine Praxis eröffnen.“ Doch derzeit hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) eine Zulassungssperre für Rheumatologen erlassen. Denn laut ihr gibt es sogar eine „Überversorgung“ an Rheumatologen. „Sie kommen auf andere Zahlen, weil sie die orthopädischen Rheumatologen hinzuzählen“, meint Sörensen. Doch ein orthopädischer Rheumatologe sei für Operationen am Gelenk zuständig und nicht mit den unterschiedlichen medikamentösen Therapien vertraut, die bei entzündlichen rheumatischen Erkrankungen angewendet werden.
Solange sich dieser Konflikt nicht auflöst, wird sich für die Patienten nichts ändern. Zwar haben einige Ärzte in den letzten Jahren eine Sonderzulassung erwirkt. Doch jede Sonderzulassung bedeutet zehn Prozent weniger Honorar für die bereits niedergelassenen Rheumatologen. Denn das Gesamtbudget für Rheumatologen wurde von der KV wegen des Zulassungsstopps seit 2008 nicht erhöht. Damals gab es gerade elf niedergelassene Fachärzte für Rheumatologie in Berlin. „Viele finanzieren ihre Praxis über Privatpatienten“, sagt Sörensen. Bemühungen für eine Honorarumverteilung scheiterten bislang an den Mehrheitsverhältnissen der Mitgliederversammlung in der KV. „Wir sind eine der kleinsten Arztgruppen“, sagt Sörensen. Zu klein, um eine Lobby zu haben. Leidtragende sind die Patienten wie Marion Grab.
Saara Wendisch
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