Gesundheit: Woher wir kommen, wohin wir gehen
Pamuk, Johnson, Swift: Literaten kartieren ihre Welten, Wissenschaftler nehmen die Spur auf
Man könnte einen Berliner Stadtrundgang in der Altdorfer Straße in Lichterfelde beginnen, dann in die Baseler einbiegen und zur Curtiusstraße gehen. Später ginge es weiter über die Perleberger, die Quitzowstraße und die Rathenower Straße in Moabit. Der Parcours fände sein Ende mit den Straßen X, Y und Z am Tegeler See. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Robert Stockhammer hat diesen Spaziergang unternommen. Und er hat dabei einen Kurzfilm gedreht, in dem er die Straßenschilder zu Musik von Lou Reed und Brian Eno Revue passieren lässt.
So schreibt man dem Berliner Stadtraum eine Ordnung ein: Sich entlang des Alphabets durch die Straßen zu schlagen, funktioniert tatsächlich fast lückenlos. Außerdem betreibt man so auf lustvolle Weise Wissenschaft. Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari jedenfalls würden sagen, Stockhammer hat den „glatten“ Stadtraum mit Markierungen versehen, ihn „gekerbt“.
Deleuze und Guattari gehören – wie ihre Landsleute Michel de Certeau und Henri Lefebvre – zu den wichtigsten Vordenkern jener „Wiederkehr des Raums“, die seit einiger Zeit unter dem Schlagwort „spatial“ oder „topographical turn“ die Kulturwissenschaften beschäftigt. Nachdem der Raum durch die Geschwindigkeit der neuen Transport- und Medientechnologien als „geschrumpft“, wenn nicht „vernichtet“ galt, nachdem das Gespenst der Simulation umging, erlebt er nun eine Renaissance. Politische Ereignisse wie der Fall des „Eisernen Vorhangs“, der die europäische Geographie einschneidend verändert hat, aber auch die Theoretiker der „postcolonial studies“, die Grenzen, Transit- und Zwischenräume ins Blickfeld rückten, haben diesem Boom den Weg bereitet. Der deutschen Diskussion hat Sigrid Weigel, Direktorin des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, wichtige Anstöße gegeben. Oder der Historiker Karl Schlögel, der 2003 seine materialreiche und weitgehend theorieabstinente Studie „Im Raume lesen wir die Zeit“ vorlegte.
Die Raum-Konjunktur jedenfalls dröhnt so laut, dass manche sich schon die Ohren zuhalten. Sie wittern Gefahr: Aus Unbehagen am Virtuellen könnte man sich nun blindlings auf Räume, Orte und Territorien stürzen. Denn die versprechen Materialität, gesteigerte Wirklichkeit und eine realitätsgesättigte Verbindlichkeit. Dass die Dinge so einfach nicht liegen, verraten literarische Texte ebenso wie das prominenteste Verfahren der Raumaufzeichnung: die Karte. Mit Literatur und einer Sonderform der Karte, dem Stadtplan, beschäftigte sich kürzlich die Tagung „Metropolen im Maßstab“, ausgerichtet vom Berliner Center for Metropolitan Studies und der Uni Münster im Berliner Brecht-Haus.
Eigentlich scheinen die raumgebundene Statik der Karte und die zeitabhängige Mobilität des Erzählens nicht ohne Weiteres vereinbar zu sein. Und doch verbindet Texte und Karten eine ganze Menge. Beide Medien wollen gelesen und interpretiert werden. Sie operieren mit Schrift und anderen Zeichen. Mitunter geben literarische Texte und Karten Antwort auf die existentielle Frage, wo wir uns befinden. Entscheidend aber dürfte sein, dass beide die Welt nicht einfach abbilden: Sie konstruieren Weltbilder und deuten sie nach ihrer Interessenlage. Nachlesen kann man das in Stockhammers gerade erschienener „Kartierung der Erde“ (Fink Verlag), der ersten systematischen Untersuchung des so produktiven Verhältnisses von Kartographie und Literatur in deutscher Sprache.
Ist der Blick einmal geschärft, stolpert man allerorten über die Liaison von Literatur und Karten: sei es in Swifts „Gullivers Reisen“, Stevensons „Schatzinsel“ oder in Melvilles „Moby Dick“, bei Kafka, Thomas Pynchon oder Umberto Eco. Auch Orhan Pamuk stellt seinem Buch „Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt“ einen Stadtplan voran. Im Text sieht er sich als Kind durch die Straßen laufen, verfolgt den Weg der Straßenbahnen und den der Boote auf dem Bosporus – an der Karte entlang erzählt er seine Autobiografie. Sie ist zugleich, so Susanne Stemmler (Berlin), eine „melancholische Topographie“ der Stadt. Denn Pamuk erzählt auch von den architektonischen Umgestaltungen seiner Kindheitsstadt in den 50er Jahren. Der Stadtplan verändert sich merklich, Istanbul wird modernisiert, vieles geht verloren. Pamuk, als Autor selbst von der westlichen Welt geprägt, beklagt den Abriss der osmanischen Holzhäuser. Noch in seiner Istanbuler Topographie erkennt man Pamuks so eigentümliches Schillern zwischen Westen und Osten, zwischen Moderne und Tradition.
Natürlich fungiert Pamuks Istanbul-Karte auch als Erinnerungsspeicher. Ähnlich verhält es sich mit einem veralteten Plan der New Yorker Metrolinien, den Marie für ihre Mutter Gesine in Uwe Johnsons Megaroman „Jahrestage“ aufbewahren will. Gerade in Johnsons Büchern, zeigte Nils Plath (Osnabrück), blitzt eine ganz spezielle Affinität zu Stadtplänen auf: Mit ihrer Hilfe eignen sich die Figuren die Orte an, nehmen sie in Besitz. Und es war der Berliner S-Bahn-Plan, der Johnson in Zeiten des Mauerbaus dazu diente, die Teilung der vitalen Stadt als einen unterbrochenen Blutkreislauf darzustellen. Doch neben der Funktion des Gedächtnisses – immerhin eine genuin literarische: zeigen, wie es gewesen ist – scheinen Stadtpläne und Karten in Romanen oft zu versichern: Genauso ist es. Sie suggerieren die Authentizität der erzählten Geschichte. Das freilich kann täuschen. Der Argentinier Borges etwa erschreibt sich imaginäre Karten seiner Heimatstadt Buenos Aires, der Franzose Butor zeichnet gar den Plan der erfundenen Stadt Bleston.
Wenn Stadtpläne in Büchern oder Filmen auftauchen, geht es meist um Macht und Kontrolle über den Raum – und zugleich darum, sich dieser Kontrolle zu entziehen. Jörg Dünne, Münchener Mitherausgeber einer opulenten Materialsammlung zur „Raumtheorie“ (Suhrkamp), demonstrierte das anhand von Jean-Pierre Melvilles berühmtem Kriminalfilm „Der eiskalte Engel“ mit Alain Delon von 1967. Schon hier können die Ermittler dank eines funkgestützten Überwachungssystems auf einer großen Karte im Kommissariat mitverfolgen, wie sich der Mörder durch die Stadt bewegt. Heute, in Zeiten von Satelliten und GPS, muss sich die papierne Karte der Konkurrenz anderer Medien erwehren. Mag sein, sie wird einst zum Objekt eines kleinen Kreises von Liebhabern werden. Auch das könnte Karten und Literatur schließlich verbinden.
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