Gesundheit: Weglaufen vor sich selbst
Sport ist gesund. Aber für Menschen, die zwanghaft versuchen abzunehmen, kann er zur Sucht werden. Eine junge Frau erzählt, wie sie fast an Sportbulimie gestorben wäre
Es gab Tage, an denen erst der Schmerz ihren Lauf beendet hat, wenn Lisa Pauli* die Füße und Knie so weh taten, dass es nicht mehr weiterging. Fünf, manchmal sogar sechs Stunden war sie zuvor gelaufen, die Zeit war ihr egal, das Tempo auch, Spaß gemacht hat es ihr sowieso nicht. Beim Laufen hatte Lisa Pauli nur ein Ziel: Gewicht verlieren, so viel wie möglich. Denn so wie sie war, wollte sie nicht bleiben. „Ich wollte den perfekten Körper haben“, erzählt sie. Laufen sollte alle Kalorien wieder vernichten, die sie zuvor in Fressattacken zu sich genommen hatte. Lisa Pauli ist 1,70 Meter groß. An ihrem Tiefpunkt wog sie nur noch 40 Kilogramm.
Sport kann eine gesunde Leidenschaft sein, aber für manche Menschen, wie für die 19 Jahre alte Westfälin Lisa Pauli, ist er eine gefährliche Sucht. Bedrohlich wird es, wenn das Bedürfnis nach Bewegung zusammenkommt mit Magersucht oder der Ess-Brech-Sucht Bulimie, weil Menschen sich zu dick vorkommen. Es sind dadurch neue Krankheitsbilder entstanden, wie die Sportmagersucht oder die Sportbulimie. Dabei ist der Sport ein Mittel, ein Beschleuniger, um noch mehr Gewicht zu verlieren als ohnehin schon durch Ernährungsverzicht. „Diese Krankheitsbilder liegen am Trend, ewig jung, ewig schlank und ewig fit zu sein“, sagt Georg Ernst Jacoby, der Chefarzt der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, die jährlich etwa 500 Menschen mit Essstörungen stationär behandelt. Darunter sind immer mehr Patienten, die auch exzessiv Sport treiben, vor allem Frauen. Denn: „Wir haben einen Wandel des weiblichen Schönheitsideals in der Gesellschaft – weg von der nur dünnen Figur, hin zum sportlichen Schlanksein“, sagt Jacoby.
Gewicht hat beim Sport schon immer eine Rolle gespielt, am auffälligsten in den Gewichtsklassen von Kampfsportarten. Aber auch in anderen Disziplinen ist geringeres Gewicht von Vorteil – zuletzt haben die Skispringer durch ihre Abmagerungsdebatte gezeigt, welche abnormen Verhaltensweisen es im Spitzensport gibt. Die Kombination aus Mangelernährung und körperlicher Belastung ist riskant. „Das reicht bis zum plötzlichen Herztod“, erklärt Jacoby.
Es gab schon Todesfälle, wie den des Olympiasiegers im Rudern, Bahne Rabe, der als Schlagmann den deutschen Achter bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul zur Goldmedaille geführt hatte. Rabe reduzierte sein Gewicht immer weiter und war schließlich so geschwächt, dass er 2001 an einer Lungenentzündung starb.
Viele können ihre Krankheit mit dem gesellschaftlich anerkannten Leistungsgedanken kaschieren. International erfolgreiche Marathonläufer beispielsweise müssen sich selten für ihre Statur rechtfertigen. Sie sind schließlich schnell. Aber auch unter ihnen gibt es zahlreiche Krankheitsfälle.
Die Sportsucht reicht jedoch tief in die Gesellschaft hinein und muss nicht immer etwas mit Leistung zu tun haben. Lisa Pauli hat zu keiner Zeit ihrer Sportsucht vorgehabt, einen Wettkampf zu bestreiten. Sie hatte als Gegner nur sich selbst. Von ihrer Krankheit erzählt sie mit klarem Kopf und flüssiger Sprache. In diesem Jahr wird sie ein Psychologie-Studium an einer Universität im Ruhrgebiet beginnen. Ihr Fall ist typisch, da Essstörungen besonders oft unter intelligenten, ehrgeizigen und perfektionistischen jungen Frauen vorkommen.
Bei Lisa Pauli begann es mit 16 Jahren damit, dass sie sich selbst nicht anerkannt fühlte, dass sie sich ständig beweisen wollte, mit ihrem Kopf in der Schule, aber auch mit einem schlanken Körper. In ihrer Klasse war ein Mädchen, das für sie keine Mitschülerin war, sondern eine Konkurrentin. Die hatte eine schlanke, sportliche Figur. „Ich wollte auch so sein wie sie.“ Um ihr Gewicht zu reduzieren, ließ Lisa Pauli erst ein paar Mahlzeiten aus, dann begann sie mit dem Sporttreiben. Erst zweimal die Woche, dann immer häufiger. Jede Mahlzeit weckte in ihr das Bedürfnis, die Kalorien einfach abzulaufen. „Ich hatte unglaublich Angst zuzunehmen.“ So kam sie schnell auf ein tägliches Trainingspensum von zwei bis drei Stunden. „Ich hatte eine Sportmagersucht.“
Ihre Krankheit hat sich im Laufe der Zeit verändert, es kamen auf einmal Fressattacken dazu, „drei Gläser Nutella auf drei Packungen Toast“. Was für andere Bulimikerinnen das Erbrechen nach dem Essen ist, wurde ihr das Laufen. „Ich habe versucht, mich zu übergeben, aber es ging nicht, davor hatte ich immer zu viel Respekt.“ Aber je mehr sie aß, desto mehr wollte sie laufen, und dazu hat sie jede Gelegenheit genutzt. „Manchmal habe ich mir sogar nachts den Wecker gestellt und bin für zwei Stunden auf den Crosstrainer gegangen, der bei mir im Zimmer stand.“
Es ist nicht der Zwang zum Abnehmen allein, der die Sportsucht ausmacht, sagt Mediziner Jacoby. „Sport hat auch eine antidepressive Wirkung.“ Es werden Glückshormone ausgeschüttet. Dieses Gefühl will der Sporttreibende immer wieder und genauso intensiv wie am Anfang erleben und steigert so seine Dosis. Fällt einmal das Training aus, tauchen Entzugserscheinungen auf, der Sport wird zum bestimmenden Faktor des Tagesablaufs.
Die Stimme des Körpers, der längst überfordert ist, und Warnungen von außen überhören Patienten jedoch. Lisa hatte sich von ihrer Familie und ihren Freunden abgekapselt. „Wenn jemand mich aufs Laufen angesprochen hat, habe ich gesagt: Ihr seid ja nur neidisch, weil ihr keine Kondition habt.“ So lief sie – bis zum Zusammenbruch. „Ich habe am Ende beim Laufen Blut gespuckt“, erzählt sie, „abends im Bett habe ich nur noch geheult. Im April dieses Jahres hätte ich mich am liebsten umgebracht, wenn ich nicht so feige gewesen wäre.“
Sie wusste, dass sie nur noch professionelle Hilfe weiterbringen konnte, für diesen Weg entschied sie sich nach Gesprächen mit ihrer Familie. „Die meisten Psychologen und Psychiater hatten lange Wartezeiten. Als ich dann doch einen gefunden hatte, sagte der mir sofort: Klinik – es gibt keine Alternative. Aber diesen Gedanken fand ich scheußlich.“
Der Leidensdruck brachte sie doch noch zu einer stationären Therapie, in der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen. Dass sie es dort tatsächlich achteinhalb Wochen aushalten würde, hätte sie am Anfang nicht gedacht. Lisa sollte erst einmal zwei Wochen ohne Sport durchstehen. „Es war die Hölle, es fiel mir so schwer zu essen und mich danach nicht zu bewegen. Ich wäre am liebsten in meinem Zimmer herumgerannt.“
Ein solcher stationärer Aufenthalt kann die Patienten aus ihren Alltagsgewohnheiten herausreißen. „Ich war auf einmal gezwungen, mich mit mir selbst zu beschäftigen“, sagt Lisa. Und in der Gruppe hat sie gemerkt, dass sie gar nicht perfekt sein muss, um gemocht zu werden.
„Die Selbstheilungskräfte der Patienten untereinander sind sehr hoch“, sagt Chefarzt Jacoby, der in schweren Fällen immer zu einer stationären Behandlung rät. „Hier gibt es jeden Tag fünf Stunden Therapie, bei einer ambulanten Therapie oft nur eine Stunde die Woche.“ Als wertvollste davon hat Lisa die Körpertherapie empfunden: Bewegung zu Musik, Tanzen, Entspannungsübungen. „Ich habe zum ersten Mal meinen Körper nicht als erschöpft und kraftlos gespürt, sondern als Teil von mir.“
Seit zwei Wochen ist sie wieder zu Hause und hat sofort begonnen, es sich mit Ritualen leichter zu machen, drei Mahlzeiten am Tag mit der Familie haben nun eine ganz neue Bedeutung. Ob sie wieder laufen wird, weiß sie noch nicht. Es besteht schließlich auch bei der Sportsucht eine Rückfallgefahr. „Das werde ich wohl auf nächstes Jahr verschieben. Ich habe zu viel Angst, mich da wieder reinzusteigern.“ Sie will erst ausprobieren, ob das Laufen nicht nur eine Qual, sondern auch ein Spaß und eine Erfüllung für sie sein kann. Vielleicht in einem Lauftreff, um in der Gruppe davor geschützt zu sein, sich alleine mit ihrer Sucht zu verlaufen.
*Name von der Redaktion geändert.
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