Syphilis: Vom Rausch zum Risiko
Jahrhundertelang war sie eine der Geißeln der Menschheit, inspirierte aber auch die Kunst: die Syphilis. Dann kam das Penicillin. Lange fühlten sich die Leute sicher. Jetzt kehrt das Geschlechtsleiden zurück.
Unter dem Mikroskop sieht es aus wie ein Bündel von Drähten oder Schlangen, spiralig gekrümmt, ineinander verschlungen, als hätte Großmutter versehentlich ihr Wollknäuel fallen gelassen: das Bakterium Treponema pallidum. Doch es ist alles andere als harmlos. Jahrhundertelang haben die Menschen unter ihm gelitten. Denn es ist der Erreger der Syphilis.
Die Krankheit ist seit der Einführung des Penicillin heilbar, Treponema pallidum kann vollständig aus dem Körper entfernt werden. Aber nach Schätzungen der WHO stecken sich immer noch rund 12 Millionen Menschen jährlich an – in Entwicklungsländern, aber auch in Osteuropa. Und in Deutschland gibt es seit rund zehn Jahren ein „Comeback“ der Syphilis, von dem vor allem homosexuelle Männer betroffen sind. Laut Robert Koch Institut haben sich 2009 bundesweit 2715 Menschen angesteckt, in Berlin waren es 409.
Der Grund ist riskantes Sexualverhalten. Wenn das Kondom weggelassen wird, steigt das Risiko einer Infektion – sowohl mit Syphilis als auch mit HIV. Beides bedingt sich häufig gegenseitig. Eine Syphilis verursacht kleine Verletzungen der Haut, die eine HIV-Infektion begünstigen. Ein von HIV geschwächtes Immunsystem macht es wiederum dem Syphilis-Erreger leichter, einzudringen.
Kondome bieten keinen vollständigen Schutz. „Der Erreger kann auch an unerwarteten Stellen in den Körper eindringen“, sagt der Dermatologe Hansjörg Reupke, der in seiner Praxis in der Wilmersdorfer Straße Syphilis-Patienten behandelt. Der Arzt berichtet von einem Mann mit einem merkwürdigen Geschwür auf dem Rücken, dass sich mehrere Ärzte zunächst nicht erklären konnten – bis klar wurde, dass sich eine Prostituierte rittlings auf ihn gesetzt hatte: So hatte sich die Syphilis über die Rückenhaut übertragen. Mit einem Geschwür fange die Krankheit immer an, erklärt Reupke. Es tritt meist im Genitalbereich oder im Enddarm auf, wird aber von vielen Patienten für Herpes gehalten. Nach zwei Wochen verschwindet es, aber die Bakterien haben den Körper keineswegs verlassen. Die zweite Phase beginnt nach einem halben Jahr. Es bildet sich ein fleckiger Ausschlag am ganzen Körper, der aber auch wieder abheilt. Wer nicht zum Arzt geht, tritt nach einigen Jahren ins dritte Stadium ein: Die Bakterien haben sich im ganzen Körper ausgebreitet und auch innere Organe befallen. In der vierten Phase, Jahrzehnte nach der Infektion, sind auch die Nerven befallen. Demenz und Wahnsinn können die Folge sein. Bei gravierenden neurologischen Störungen führt die Syphilis auch zum Tod.
Die beiden letzten Stadien werden in westlichen Ländern kaum noch erreicht. In früheren Jahrhunderten dagegen war man der Krankheit und ihren Folgen oft bis zum bitteren Ende ausgeliefert. Erstmals massenhaft trat die Syphilis 1494 in Neapel auf. Man gab ihr verschiedene Namen: Mal de Naple, Morbus Gallicum, English Disease, Französische Krankheit. „Die Namensvielfalt deutet darauf hin, dass die Zeitgenossen mit etwas völlig Neuem konfrontiert waren“, sagt Volker Hess, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Charité.
Im 16. Jahrhundert war die Syphilis im öffentlichen Diskurs hochgradig mit Schuld besetzt, ähnlich wie Aids heute. Im 19. Jahrhundert hatte sich das entspannt, sie galt jetzt als Jugendsünde, die man „eben hatte“. Das nahm ihr aber nichts von ihrer teils dramatischen Wirkung. In Europa hat die Syphilis Kulturgeschichte geschrieben: Dürer malte einen Syphiliskranken, Voltaire lässt Dr. Pangloss in seiner Leibniz-Satire „Candide“ an Syphilis erkranken, und noch bei Thomas Mann infiziert sich der Protagonist seines Romans „Dr. Faustus“ mit ihr.
Franz Schubert, Heinrich Heine, Frederic Chopin, Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche – sie alle sollen von Syphilis betroffen gewesen sein. Die volle medizinische Wahrheit wird man nicht mehr erfahren. „Retrospektive Diagnostik ist sehr schwierig“, sagt Hess. Bleibt die Fantasie. Für das romantische, vom Geniekult besessene 19. Jahrhundert bot die neurologische Verwirrung des Spätstadiums der Syphilis, die noch dazu mit Sex, Rausch und Entgrenzung assoziiert war, eine willkommene Erklärung für die Inspiration und den Schaffensdrang vieler Künstler.
Im 20. Jahrhundert gewann die Wissenschaft die Oberhand. 1905 identifizierten Fritz Schaudinn und Erich Hoffmann an der Charité das „Wollknäuelbakterium“ Treponema pallidum als Erreger. 1909 entwickelte Paul Ehrlich mit Arsphenamin, bekannt als Salvarsan, erstmals ein wirksames Medikament, allerdings mit gefährlichen Nebenwirkungen.
Erst mit der Entdeckung des Antibiotikums Penicillin 1928 war der Durchbruch geschafft. Bis heute hat Treponema pallidum keine Resistenzen gegen Penicillin ausgebildet. „Allerdings beobachten wir in einigen Ländern seit einiger Zeit erhöhte Resistenzen gegen Makrolide, die als Penicillinersatz, etwa bei einer Allergie, angewendet werden“, sagt Annette Moter vom Institut für Mikrobiologie und Hygiene der Charité. Trotzdem: Bei den meisten Patienten reicht heute eine einmalige Penicillin-Spritze.
Dermatologe Hansjörg Reupke weist aber darauf hin, dass es keine Impfung gegen Syphilis gibt. Wer geheilt ist, kann sich bei unvorsichtigem Verhalten wieder infizieren. Das berüchtigte Spätstadium wird aber höchstwahrscheinlich niemand mehr erreichen. Künstlerische Inspiration muss heute woanders herkommen. Aber das ist wohl zu verschmerzen.
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