Nord- und Ostsee: Rätselhaftes Robbensterben
An Nord- und Ostsee fallen Seehunde erneut einer Virus-Epidemie zum Opfer
Die Nordseewellen werfen einen graubraunen Körper am Strand der Insel Wangerooge hin und her, bis eine besonders große Woge ihn auf ein trockenes Fleckchen trägt. Lange bleibt der aufgedunsene Kadaver dort aber nicht liegen. Die Kurverwaltung will den Urlaubern den Anblick ersparen.
Sie ist ununterbrochen im Einsatz. Denn bisher sind 12 000 Seehunde in Nord- und Ostsee einer Epidemie zum Opfer gefallen, die dort bereits 1988 grassierte. Damals hatte das Seehundstaupevirus (PDV) 20 000 Robben dahingerafft. Allein im Wattenmeer verendeten 60 Prozent des Bestandes. Über die genaue Ursache der Epidemie rätseln Forscher damals wie heute.
Das Virus infiziert die Seehunde und löst eine Lungenentzündung aus, der viele Tiere zum Opfer fallen. Eine kranke Robbe steckt andere Tiere an, wenn sie mit ihnen in Kontakt kommt. 1988 tauchte das Virus zunächst bei Seehunden vor der Insel Anholt an der dänischen Ostküste auf. Von dort breitete sich die Epidemie über das angrenzende Skagerrak in das Wattenmeer in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und den Niederlanden aus, bevor sie nach Großbritannien übersprang.
Auch diesmal war der Ausgangspunkt der Epidemie im späten Frühjahr die dänische Insel Anholt. Im Kattegat und Skagerrak wurde daher der Höhepunkt der Epidemie bereits überschritten. 6900 tote Seehunde wurden dort bisher geborgen.
Der Verdacht liegt nahe, auf der kleinen Insel Anholt könnte eine Quelle existieren, an der sich die Tiere zufällig infizieren. Um eine solche Quelle zu identifizieren, muss man erst einmal den Erreger kennen: PDV ist ein „Morbillivirus“ und damit relativ nahe mit dem Erreger der Masern beim Menschen verwandt. Typischerweise infizieren Morbilliviren nur Fleischfresser. Als Quelle kommen daher Hunde und Katzen, aber auch Marder oder Nerze in Frage.
Auf diese fiel dann auch ein vager Verdacht: Aus Zuchtfarmen entkommene Nerze könnten das Virus an die Seehunde vor Anholt übertragen haben. Beweisen aber konnte diese Theorie niemand, Experten halten sie für recht gewagt.
Plausibler scheint die „Sattelrobben-Theorie“, wie sie Ursula Siebert vom Forschungs- und Technologiezentrum Westküste der Kieler Universität erläutert: Die Sattelrobben der Arktis leben schon lange mit dem Virus und haben sich daran so gewöhnt, wie die Menschen sich an das Masernvirus angepasst haben. Zwar erkrankt man nach einer Infektion schwer, aber nur wenige sterben daran. Und nach überstandener Infektion bleibt man lebenslänglich immun.
Ganz anders als in der Arktis ist die Situation dagegen bei den Seehunden von Nord- und Ostsee: Dort gibt es einfach zu wenige Tiere. Nach einer Saison stirbt der Erreger in unseren Gewässern aus. Schwimmt nun eine infizierte Sattelrobbe auf einer ihrer langen Wanderungen bis zur Nord- oder Ostsee, trifft sie kurz nach einer Epidemie mit großer Wahrscheinlichkeit nur auf Seehunde, die selbst eine Staupe-Infektion überlebt haben und immun sind. Nach einigen Jahren aber sind die meisten Tiere gestorben, die Widerstandskräfte erloschen.
Zwar kann ein Seehund 40 Jahre alt werden, sagt Hans-Ulrich Rösner, der die Wattenmeerstation des World Wide Fund for Nature (WWF) in Husum leitet. Aber nur wenige Tiere sind älter als 14 Jahre. Daher sind im Jahr 2002 nur 20 Prozent der Seehunde in Nord- und Ostsee nach der Epidemie des Jahres 1988 noch gegen PDV immun, berichtet das Wissenschaftsmagazin „Science“ (Band 297, Seite 209). So konnte sich die Infektion wieder rasch ausbreiten.
Der Virologe und Masern-Experte Jürgen Schneider-Schaulies vom Institut für Virologie und Immunbiologie der Universität Würzburg kennt mehrere Beispiele von Masern-Epidemien, die genau nach diesem Schema abgelaufen sind: 1846 wurden Masern nach einer langen Periode ohne solche Infektionen erstmals wieder auf die Faröer-Inseln getragen. Bis auf wenige alte Menschen, die in ihrer Jugend Masern und daher noch Widerstandskräfte gegen das Virus hatten, erkrankte fast die gesamte Bevölkerung. Ähnliche schlagartige Epidemien kennt man auch von den Fidschi-Inseln und vom Amazonas-Gebiet. Dort waren die Einheimischen offenbar seit Generationen nicht mehr mit Masern in Berührung gekommen, mehr als 20 Prozent der Infizierten starben.
Das erinnert an die zur Zeit ablaufende PDV-Epidemie an Nord- und Ostsee. Noch aber gibt es eine Reihe von Ungereimtheiten. So sprang die Epidemie diesmal direkt aus den Gewässern zwischen Dänemark und Schweden zur niederländischen Küste. Zwar schwimmen Seehunde nach Angaben der Schutzstation Wattenmeer in Rendsburg an einem Tag durchaus bis zu 150 Kilometer weit. Aber einem kranken Tier, bei dem die Infektion rasch fortschreitet, mag man eine solche Rekordleistung kaum zuschreiben. Entweder gab es also zufällig einen zweiten Infektionsherd in Holland, dem bisher 4000 Seehunde bis ins niedersächsische Wattenmeer zum Opfer gefallen sind. Oder der Erreger wurde von Kriminellen mit unbekanntem Motiv nach Holland transportiert.
Ursula Siebert interessiert sich auch brennend dafür, ob Schadstoffe im Meer den Organismus der Tiere so stark schwächen, dass sie einer Infektion leichter erliegen. Bisher sieht es ihrer Meinung nach allerdings so aus, als ob das Virus ähnlich viele Opfer wie 1988 fordern würde, obwohl inzwischen weniger Schadstoffe im Meer schwimmen.
Um solche Fragen zu klären, müsste mehr Forschung betrieben werden, fordert Hans-Ulrich Rösner. Genau daran aber haperte es bereits 1988: Als das Seehundsterben zu Ende war, versiegten auch die Geldquellen. Die Wissenschaft fischt weiter im Trüben.
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