Arztbrief: Multiple Sklerose
Unser Experte Lutz Harms ist Oberarzt an der Klinik für Neurologie der Charité und im Leitungsteam des MS Zentrum Charité Campus Mitte mit Spezialambulanz für Multiple Sklerose und Neuroimmunologie. Die Klinik ist das von niedergelassenen Neurologen Berlins für die stationäre Behandlung einer Multiplen Sklerose am häufigsten empfohlene Krankenhaus (Ärzteumfrage 2015 von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin).
ERKLÄRUNG Multiple Sklerose (kurz: MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems: Im Gehirn und im Rückenmark kommt es immer wieder zu Entzündungen an der Schutzschicht der Nervenfasern, den sogenannten Mark- oder Myelinscheiden. Die Markscheiden spielen bei der Erregungsleitung der Zellen eine wichtige Rolle. Werden sie durch die Entzündungen beschädigt, gelangen beispielsweise die Befehle des Gehirns nur noch eingeschränkt zu den Muskelzellen des Körpers. In der Folge können beispielsweise Gefühls- oder Lähmungserscheinungen auftreten. Weil das eigene Immunsystem die Schutzschicht der Nerven attackiert und so die Entzündungen auslöst, zählt MS zu den Autoimmunkrankheiten.
Der Name Multiple Sklerose leitet sich von dem Erscheinungsbild der Krankheit ab: In Gehirn und Rückenmark entstehen multiple - sprich: mehrere - Entzündungsherde, die dazu führen, dass sich das betroffene Gewebe krankhaft verhärtet - ein Vorgang, den Fachleute als Sklerosierung bezeichnen (von griechisch „skleros“ für hart). MS ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen und unter jungen Menschen sogar die häufigste. „In Deutschland sind rund 180 000 Menschen betroffen, die ersten Krankheitszeichen treten meist im Alter von 18 bis 36 Jahren auf“, sagt Lutz Harms, Oberarzt an der Klinik für Neurologie der Charité und Leiter des MS Zentrum Charité Campus Mitte mit Spezialambulanz für Multiple Sklerose und Neuroimmunologie. Wie bei den meisten Autoimmun-erkrankungen leiden vor allem Frauen an MS, sie machen rund drei Viertel der Patienten aus.
Bisher ist MS nicht heilbar. Und auch wenn die Krankheit die Lebenserwartung der meisten Betroffenen kaum senkt, kann sie deren Lebensqualität stark beeinträchtigen: Ohne Behandlung führt sie bei rund 90 Prozent der Erkrankten zu einer Behinderung. „Mit einer ausreichenden Behandlung ist aber heutzutage für sehr viele Betroffenen ein weitgehend normales Leben möglich“, sagt Harms. „Die Diagnose Multiple Sklerose bedeutet also absolut nicht zwangsläufig: Rollstuhl.“
SYMPTOME Typische Symptome sind Empfindungsstörungen wie Taubheitsgefühle in Armen und Beinen, Schmerzen, ein vorübergehender Verlust der Sehkraft oder verschwommenes Sehen sowie Muskellähmungen, bei denen beispielsweise Arme und Beine kraftlos und angespannt (spastisch) sind. Im Extremfall sind die Betroffenen dann auf einen Rollstuhl angewiesen. Auch Beschwerden wie Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen sowie Probleme mit dem Schlucken, dem Sprechen oder der Blasenfunktion kommen vor. Wie genau sich die Erkrankung bemerkbar macht, hängt davon ab, welche Regionen des zentralen Nervensystems betroffen sind. Deshalb wird MS auch als „Krankheit mit tausend Gesichtern“ bezeichnet. Bei rund 85 Prozent der Betroffenen verläuft MS zunächst in Schüben: Akute Krankheitsphasen wechseln sich mit weitgehend entzündungsfreien ab. „Von Schub zu Schub können sich die konkreten Symptome dann stark voneinander unterscheiden“, sagt Harms. Denn die Entzündungen würden häufig von dem einen Bereich des ZNS zu einem anderen wandern - ohne erkennbares Muster. Besonders häufig seien jedoch die Sehnerven betroffen sowie Neuronen im Hirnstamm, im Kleinhirn und in den Strängen des Rückenmarks. Besonders zu Beginn der Krankheit und bei jungen Patienten kann die Schubaktivität sehr hoch sein. Später nimmt sie dann häufig ab, obwohl die Krankheit weiterschwelt. „Unbehandelt kann ein Krankheitsschub mehrere Tage bis Wochen andauern“, sagt Harms. Danach verschwinden die Symptome zumindest anfangs häufig wieder vollständig. Die Erkrankung kann sich jedoch auch von Beginn an fortschreitend verschlechtern.
URSACHEN Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung: Die Abwehrzellen des Körpers, die eigentlich gegen Erreger von außen kämpfen sollen, richten sich aufgrund einer Störung auch gegen körpereigenes Gewebe - im Falle der MS gegen das Nervengewebe. Wie das Nervenleiden entsteht, ist noch unklar. Sicher scheint nur zu sein: Multiple Sklerose ist eine multifaktorielle Krankheit. „Zum einen spielt die genetische Veranlagung eine wichtige Rolle“, sagt Harms. „Aber auch bestimmte Umwelteinflüsse können dazu beitragen, dass es zu der schädlichen Autoimmunreaktion kommt.“
Zu diesen äußeren Einflüssen können beispielsweise Infektionen gehören, etwa mit dem Epstein-Barr-Virus. Aber auch Aspekte der eigenen Lebensweise wie Tabakkonsum - und die regionale sowie ethnische Herkunft: "Die Häufigkeit von MS-Erkrankungen nimmt zu, je weiter man sich geografisch vom Äquator nach Norden und Süden entfernt", sagt Harms. Dies könne dafür sprechen, dass die Sonneneinstrahlung eine Rolle spielt. Denn UV-Strahlung fördert die körpereigene Produktion von Vitamin D, das sich wiederum günstig auf das Krankheitsrisiko auszuwirken scheint. Auch die Ernährung hat möglicherweise Einfluss darauf, ob die Erkrankung ausbricht oder nicht.
DIAGNOSE Für die Diagnose von Multipler Sklerose sind vor allem vier Dinge wichtig: das Patientengespräch (Anamnese), bei dem es um die individuelle Krankengeschichte und erlebte Symptome geht, und eine körperliche Untersuchung. Außerdem eine Diagnostik im Magnetresonanz-Tomografen (MRT) und eine Laboranalyse des Nervenwassers. Für die Aufnahmen mit dem MRT spritzt der Arzt dem Patienten ein Kontrastmittel. „Dann werden die aktiven Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark als weiße Flecken sichtbar“, sagt Harms. Das Nervenwasser für die Analyse wird mithilfe einer Spritze aus dem Bereich der Lendenwirbelsäule entnommen. Seine Untersuchung im Labor dient auch dazu, andere Erkrankungen als Ursachen für die Beschwerden auszuschließen - beispielsweise die durch Zeckenbisse übertragbare Borreliose. Darüber hinaus können Ärzte auch Untersuchungen an den Augen durchführen. „Da der Sehnerv meist frühzeitig von den Entzündungen betroffen ist, kann es zusätzlichen Aufschluss geben, seine Leitungsfähigkeit zu testen“, sagt Harms. Dies geschehe mithilfe sogenannter visuell evozierter Potenziale, also beispielsweise durch Hell-Dunkel-Reize, die die Netzhaut stimulieren.
THERAPIE Multiple Sklerose ist bisher nicht heilbar. Mittlerweile ist es jedoch in vielen Fällen möglich, die Krankheit mithilfe von Medikamenten in Schach zu halten und ihr Fortschreiten zu verzögern. „Dadurch können die Patienten ihre Lebensqualität meist über viele Jahre weitgehend erhalten“, sagt Harms. Wichtig dafür sei jedoch, dass die Behandlung möglichst früh beginne.
Ziel der MS-Therapie sei derzeit ein Zustand, den Ärzte „NEDA“ nennen. Diese englische Abkürzung steht für „no evidence of disease activity“, also einen Zustand, in dem sich keine akuten Anzeichen für die Krankheit, keine Entzündungsaktivität nachweisen lassen.
Die Therapie der Multiplen Sklerose basiert auf mehreren Behandlungsprinzipien: der Therapie eines akuten Schubes, einer prophylaktischen Behandlung, die zukünftige Schübe unterdrücken soll, und der Behandlung der Krankheitssymptome, um die Lebensqualität zu verbessern
Einen akuten Schub lindern Mediziner meist mit dem entzündungshemmenden Arzneistoff Kortison. „Wenn das nicht ausreicht, kann eine Plasmapherese, eine Blutwäsche, zum Einsatz kommen“, sagt Harms. Dabei wird das Blut, das über eine Vene angezapft wird, gefiltert. „So werden die Eiweißmoleküle, die Entzündungsprozesse verursachen, aus dem Körper entfernt.“
Bei der vorbeugenden Therapie geht es vor allem darum, die Fehlfunktion des Immunsystems zu korrigieren. Dies geschieht vor allem medikamentös, ebenso wie die Behandlung der Symptome beispielsweise durch Schmerzmittel oder sogenannte Anti-spastika, die gegen die Muskelanspannungen eingesetzt werden.
Daneben können auch Physiotherapien helfen. Und, auch wenn es überraschend klingt: Schwangerschaften. Studien haben ergeben, dass in deren späterer Phase die Krankheitsaktivität im Körper der Frau deutlich geringer ist. Der Grund: Das ungeborene Kind trägt zur Hälfte die Gene des Vaters und ist somit ein halber Fremdkörper im Mutterbauch, der vom Immunsystem der Mutter angegriffen werden könnte. Deshalb fährt der weibliche Körper während der Schwangerschaft das eigene Abwehrsystem herunter, um das Kind zu tolerieren - mit positiven Nebenwirkungen auf die Multiple Sklerose.
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