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Gesundheit: Mit ihm gesundete eine ganze Stadt

Vor 100 Jahren starb Rudolf Virchow, der Mediziner, Anthropologe, Ethnologe, Prähistoriker, Politiker und Berliner Ehrenbürger

Von Rolf Winau

Kaum jemand hat sich im ausgehenden 19. Jahrhundert so verdient um Berlin gemacht wie der Mediziner Rudolf Virchow. Er kämpfte erfolgreich darum, dass in Berlin die Sickergruben, die offenen Rinnsteine auf den Straßen und die Versorgung aus eigenen Brunnen abgeschafft und durch eine zentrale Wasserversorgung und ein Kanalisationssystem ersetzt wurden. Sein Generalbericht von 1874 hat die Schaffung eines Radialsystems mit Rieselfeldern in der Peripherie begründet, das für viele europäische Städte zum mustergültigen Beispiel wurde.

In der Krankenhausdeputation war Virchow eine treibende Kraft. Die Errichtung der Städtischen Krankenhäuser im Friedrichshain, in Moabit, am Urban und schließlich auch die Planung des später nach ihm benannten Rudolf-Virchow-Krankenhauses gehen auf ihn zurück. Ebenso die Gründung von Krankenpflegeschulen.

Virchow setzte die obligatorische Fleischbeschau, die Errichtung des Schlachthofes und der Markthallen durch. Auf ihn geht die Umwandlung der Armenschulen in Volksschulen zurück. Er beschäftigte sich mit der Wirkung der Schulräume auf den Unterricht, entwickelte Systeme zur besseren Belüftung, Beheizung und Beleuchtung von Klassenräumen.

Wer war dieser Mann, der heute vor genau 100 Jahren starb?

Am 26. Oktober 1839 betrat ein junger Abiturient zum ersten Mal Berliner Boden. Der am 13. Oktober 1821 in Schivelbein in Pommern geborene Rudolf Virchow kam in die preußische Hauptstadt, um an der Pépinière, der Militärärztlichen Akademie, Medizin zu studieren, da die finanziellen Verhältnisse des Elternhauses ein reguläres Medizinstudium nicht möglich machten. Wie alle Zöglinge der Pépinière absolvierte er sein Medizinstudium an der Universität, deren Medizinische Fakultät gerade in diesen Jahren mit Männern wie Johannes Müller und Johann Lukas Schönlein die Berliner Schule einer modernen Medizin begründete.

1843 wurde Virchow Unterarzt in der Charité. 1845 wurde ihm die Ehre zuteil, aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung am Geburtstag des Gründers der Pépinière die Festrede zu halten. Virchow wählte das Thema „Über das Bedürfnis und die Richtigkeit einer Medizin vom mechanischen Standpunkt“. Der 23-Jährige forderte darin eine neue Medizin auf der Grundlage von exakter Beobachtung, Tierexperiment und Leichenöffnung, um so einen direkten Zugriff auf die Krankheitsursachen zu haben.

Nach bestandenem Staatsexamen wurde er Prosektor in der Charité: er war nun für die Sektionen verantwortlich und gründete 1847 das noch heute unter dem n „Virchows Archiv“ bestehende Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie.

Schon kurz nach seiner Habilitation betraute ihn der preußische Kultusminister mit einer heiklen Mission und schickte ihn nach Oberschlesien, um die dort grassierende Flecktyphusepidemie zu beobachten. Auf Grund seiner detaillierten Untersuchung kam Virchow zu dem Schluss, dass nur unumschränkte Demokratie, nationale Autonomie, Verbesserung der Infrastruktur, aber auch „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“ solchen Epidemien den Boden entziehen könnten. Und er schließt seinen Bericht: „Die Medizin hat uns unmerklich in das soziale Gebiet geführt und hat uns in die Lage gebracht, jetzt selbst an die großen Fragen unserer Zeit zu stoßen.“

Die beginnende Revolution des Jahres 1848 gab ihm dazu Gelegenheit. Er stand nicht nur auf den Barrikaden. Die von ihm und Rudolf Leubuscher herausgegebene Wochenschrift „Die Medizinische Reform“ sollte das Sprachrohr seiner Forderungen sein. Für Virchow war es ganz selbstverständlich, dass ein Naturforscher nur Demokrat sein kann. Für ihn war die Märzrevolution der Kampf der Kritik gegen die Autorität, der Naturwissenschaft gegen das Dogma. Das Scheitern der Revolution machte seine Stellung in Berlin zunehmend schwierig. So zog er es vor, einen Ruf auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für pathologische Anatomie an der Universität Würzburg anzunehmen.

Als er sieben Jahre später nach Berlin auf einen ebensolchen Lehrstuhl zurückberufen wurde, legte er in den ersten Semestern sein großes neues Konzept der Zellularpathologie vor. Die schlagkräftige Formulierung „Omnis cellula e cellula“ (jede Zelle entsteht aus einer Zelle) wies auf die Zelle als Baustein alles Lebendigen hin.

Die Zellen sind nach Virchow die Träger krankhafter Veränderungen. Alle Krankheiten lösen sich im Konzept der Zellularpathologie zuletzt auf in aktive oder passive Störungen größerer oder kleinerer Summen von Zellen, deren Leistungsfähigkeit sich nach dem Zustand ihrer molekularen Zusammensetzung ihres Inhalts richtet. Deshalb haben physikalische und chemische Untersuchungsmethoden für die Medizin die allergrößte Bedeutung.

Die Zellularpathologie ist bis heute die Grundlage der modernen Medizin geblieben. Sie ermöglicht die Aufklärung pathologischer Basisprozesse auf zellulärer, subzellulärer und makromolekularer Ebene. Sie hilft, die Ätiologie von Krankheiten besser zu erkennen und ihre Pathogenese zu verstehen.

Bis zum Ende seines Lebens hat Rudolf Virchow in dem 1856 in aller Eile errichteten Institut gearbeitet. Ganze Generationen von Studenten, von Ärzten und Wissenschaftlern hat er dort ausgebildet, von denen viele selbst zu Begründern neuer Wissenschaftszweige der Medizin werden sollten. Unzählige ausländische Wissenschaftler haben ihn dort besucht. Nicht nur Pathologen, auch viele Kliniker und Chirurgen fühlten sich als seine Schüler. Dies alles trug dazu bei, den Weltruhm der Berliner Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu begründen.

Neben seiner medizinischen setzte Virchow seine politische Karriere in Berlin fort: 1859 wurde er zum Berliner Stadtverordneten gewählt, 1861 war er Mitbegründer der Liberalen Deutschen Fortschrittpartei. 1862 zog er in das Preußische Abgeordnetenhaus ein. Seine Auseinandersetzungen mit Bismarck trugen ihm 1865 eine Duellforderung des Ministerpräsidenten ein, die Virchow freilich ablehnte.

In den 70er Jahren wandte sich Virchows Interesse auch anderen Wissenschaften zu. Er gilt als Begründer der deutschen anthropologischen, prähistorischen und ethnologischen Forschung, deren Organisation und deren museale Präsentation er entscheidend mitbestimmte. Diese drei Gebiete bildeten seiner Meinung nach ein unteilbares Ganzes. Und so betrachtete er auch die Ausgrabungen seines Freundes Heinrich Schliemann in diesem Zusammenhang.

Hier wie in der Medizin war ihm alles Spekulieren fremd, vorschnelle Schlüsse scheute er ebenso wie allzu forsche Theoriebildung. So stand er auch den beiden großen Bewegungen der 70er und 80er Jahre, der Bakteriologie und dem Darwinismus, skeptisch gegenüber, doch darf das in dem Robert-Koch-Film von 1939 verzerrt dargestellte Verhältnis zwischen Koch und Virchow nicht für die historische Wirklichkeit gehalten werden.

Virchows Rolle wurde zunehmend die des großen alten Mannes. Er wurde zur führenden Persönlichkeit auf deutschen und internationalen Kongressen. Dabei kamen ihm besonders seine sprachlichen Fähigkeiten zustatten, beherrschte er doch nicht nur die klassischen Sprachen Griechisch, Latein, Hebräisch und Altarabisch, sondern sprach auch englisch, französisch, italienisch und holländisch. Seine literarische Produktion ließ in diesen Jahren nicht nach. Er hat mehr als 2500 medizinische, mehr als 1500 anthropologische, fast 1200 prähistorische Arbeiten verfasst, von seinen politische Reden ganz zu schweigen.

Erst im Alter von 71 Jahren wurde Virchow 1893 zum ersten Mal zum Rektor der Berliner Universität gewählt. Offensichtlich herrschte noch lange ein gewisses Misstrauen gegen ihn.

Auch nach seinem weltweit gefeierten 80. Geburtstag blieb Virchow aktiv. Am 4. Januar 1902 zog er sich beim Verlassen einer Straßenbahn – er war auf dem Weg zu einer Sitzung der geografischen Gesellschaft – durch einen Sturz einen Oberschenkelhalsbruch zu. Der Bruch verheilte zwar, aber Virchows Gesundheit war angeschlagen. So starb er am 5. September 1902. Am 9. September wurde er nach einer Trauerfeier im Roten Rathaus auf dem Matthäi-Kirchhof begraben.

Der Autor ist Medizinhistoriker an der Freien Universität Berlin.

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