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Arztbrief: Frühgeburt

Unser Experte Christoph Bührer ist Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charité. Das Krankenhaus ist das von den niedergelassenen Gynäkologen Berlins für die Versorgung von Früh- und Risikogeburten am häufigsten empfohlene Krankenhaus (Ärzteumfrage 2015 von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin).

ERKLÄRUNG Normalerweise dauert es von der Zeugung im Durchschnitt 38 bis 41 Wochen, bis ein Mensch geboren wird. Doch nicht immer hat das werdende Kind diese Zeit, um sich im Mutterleib vollständig zu entwickeln. Von den rund 702 000 Kindern, die im Jahr 2014 in den deutschen Krankenhäusern geboren wurden, kamen 70 000 vor Ablauf der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt. Dann sprechen Mediziner von einer Frühgeburt. Für die meisten frühgeborenen Kinder ist das nicht weiter schlimm. Denn ob diese dann tatsächlich als Frühchen gelten, die in speziellen Behandlungseinrichtungen - sogenannten Perinatalzentren - intensiv betreut werden müssen, hängt nicht nur von der Schwangerschaftswoche ab, sondern auch vom Geburtsgewicht. Babys, die vor Ablauf der 29. Schwangerschaftswoche geboren wurden und bei der Geburt weniger als 1500 Gramm wiegen - das waren im Jahr 2014 rund 9000 Kinder -, gelten als Risikopatienten, die nicht mehr auf normalen Geburtsstationen versorgt werden sollten, sondern in den besonders qualifizierten Perinatalzentren. Und auch da gibt es Unterschiede: In Perinatalzentren Level 2 werden Kinder behandelt, die mit einem Geburtsgewicht zwischen 1250 und 1499 Gramm und zwischen der 29. und 32. Schwangerschaftswoche auf die Welt kamen. Die Zentren Level 1, an die noch höhere Ansprüche an Ausstattung und Qualifikation gestellt werden, kümmern sich um Babys mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm, die einen Frühstart vor Ablauf der 29. Schwangerschaftswoche hinlegten.

Eine Frühgeburt kann viele Ursachen haben, zum Beispiel eine Keimbesiedlung der Fruchthöhle (1) oder Funktionsstörungen der Plazenta (2).
Eine Frühgeburt kann viele Ursachen haben, zum Beispiel eine Keimbesiedlung der Fruchthöhle (1) oder Funktionsstörungen der Plazenta (2).
© Fabian Bartel

SYMPTOME In Deutschland werden eine Schwangere und das sich entwickelnde Kind engmaschig medizinisch überwacht. Deshalb fällt es in den meisten Fällen auf, wenn etwas nicht stimmt, zum Beispiel sich der Fötus nicht in dem Tempo entwickelt, wie er sollte, weil die Plazenta erkrankt ist. Oder wenn der Arzt im Fruchtwasser eine Bakterienbesiedlung feststellt. Wenn dann der Arzt entscheidet, dass das Kind angesichts der Risiken für die Gesundheit sofort zu holen ist, bleibt immer noch genug Zeit, dafür in ein Perinatalzentrum zu gehen.

Das gilt auch, wenn vorzeitig der Blasensprung stattfindet oder Wehen einsetzen. Auch wenn das erst einmal ein Schock ist, so bleibt auch hier meist Zeit, die Schwangere in ein Perinatalzentrum zu verlegen. Dort kann dann zuerst mit Medikamenten versucht werden, die Probleme in den Griff zu bekommen, was oft aber nur vorübergehend gelingt. Trotzdem wird so wertvolle Zeit gewonnen, Mutter und Kind auf eine zu frühe Geburt vorzubereiten.

URSACHEN Warum kommen Kinder vor der Zeit? Das hat selten etwas mit beeinflussbaren Umständen oder Lebenswandel zu tun, sagt Klinikdirektor Christoph Bührer. „Das ist in den meisten Fällen Schicksal.“ Zum Beispiel, wenn Bakterien die Fruchthöhle besiedeln und zur Unzeit Wehen auslösen. Oder wenn die Plazenta geschädigt ist, die das Kind mit Nährstoffen versorgt. Dann hört das Kind auf zu wachsen und muss geholt werden.

BEHANDLUNG Sofort nach der Geburt kommen die Frühchen in einen Inkubator, einen Brutkasten. Denn ihre unfertigen Körper brauchen viel mehr ärztliche, pflegerische und medizintechnische Hilfe als reife Neugeborene. Ein Inkubator ist ein Kasten aus Plexiglas, mit 35 mal 60 Zentimetern Kantenlänge und großen Löchern in der Seite, durch die man ins Innere fassen kann. Der Hightech-Brutkasten hat es in sich: Er filtert die Luft, reichert sie mit Sauerstoff und Feuchtigkeit an und hält die Körperwärme der Kinder bei konstanten 37 Grad - ein Mikroklima, das der Gebärmutter nachempfunden ist.

Die schwächsten Babys in den Brutkästen haben Schläuche im Mund, in der Nase, am Kopf, an den Armen; für die Atmung, für die Ernährung, für Infusionen. Sie bekommen Arzneien, um die Lungen zu stärken oder Bakterien zu bekämpfen, oder werden mit intensivem Blaulicht bestrahlt, weil sie wegen der unterentwickelten Leber unter einer Neugeborenengelbsucht leiden. Das Licht beschleunigt den Abbau des Farbstoffes Bilirubin, der die Gelbfärbung der Haut auslöst.

Neben dem qualifizierten medizinischen Personal und den Hightech-Geräten ist auch der Körperkontakt mit den Eltern extrem wichtig, wie etwa das „Känguruhen“. Das Kind liegt dabei auf der Brust der Mutter oder des Vaters. Diese körperliche Nähe stärkt die emotionale Bindung zwischen Kind und Eltern, hat darüber hinaus aber auch einen therapeutischen Effekt: „Das Baby wird durch den vertrauten Herzschlag beruhigt und durch die Bewegungen des Brustkorbes erhält es einen ständigen Atemreiz“, sagt Klinikchef Bührer.

RISIKEN Die Medizin hat die Grenze, ab der ein Baby überleben kann, durch neue Behandlungsverfahren und immer ausgefeiltere Technik auf die 24. Schwangerschaftswoche vorgeschoben. Dieser Zeitpunkt hängt vor allem davon ab, ob die Lungen bereits weit genug entwickelt sind, um atmen zu können. Auch dieser Zeitpunkt kann inzwischen medikamentös beeinflusst werden. Kortisonartige Medikamente, die die Mutter erhält, die aber dem Kind nützen, können die Lungenreife beschleunigen.

Und immer wieder folgen neue Rekordmarken. Ob das aber auch im Interesse der Kinder ist, wird von vielen Ärzten bezweifelt. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Kind noch eine Weile quälen muss und dann doch verstirbt, wächst.

Aber es geht nicht nur um das Überleben, sondern um Überleben ohne Behinderung. „Wir Ärzte arbeiten hier oft in einem Graubereich“, sagt Klinikdirektor Bührer. In diesem Graubereich müssen Ärzte und Eltern gemeinsam entscheiden, was das Beste für das Kind ist. Bei dieser gemeinsamen Entscheidung haben die Eltern als Vertreter des Kindes das letzte Wort, die Ärzte beraten sie.

Die Leidensfähigkeit der Eltern ist sehr unterschiedlich. Manchmal wollen die Eltern früher aufgeben als die Ärzte, wenn nichts gut zu gehen scheint, wenn die Gesundheitsprobleme der Frühchen übermächtig werden, wenn die Hoffnung auf ein gutes Ende schwindet. Dann ist es die Aufgabe der Mediziner und Schwestern, diese Hoffnung zurückzugeben.

Aber manchmal erkennen die Ärzte, dass eine Fortführung der Therapie nicht im besten Interesse des Kindes ist. Ein Überleben um jeden Preis sei nicht das Ziel, sagt Bührer. Man müsse seine Grenzen respektieren.

Und das kann auch bedeuten, dass Arzt und Eltern die Geburt eines viel zu frühen Kindes geschehen und es dann in Ruhe für immer einschlafen lassen. Dann geht es auf der Station nicht ums Überleben, sondern um Pflege und Sterbebegleitung.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Frühgeborenes, das ab der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, überlebt, liege bei 90 Prozent, sagen Ärzte. Ab der 32. Woche sei das Sterberisiko quasi ausgestanden.

Doch es drohen noch andere Komplikationen für das viel zu früh geborene Kind. Gehirnblutungen zum Beispiel, die aufgrund unreifer Blutgefäße im Kopf auftreten. Bei der Geburt können die plötzlichen Druckunterschiede die Gefäße überfordern, sie platzen. Weiten sich Blutungen bis in das Hirngewebe aus, sind bleibende Behinderungen möglich.

Bei Frühchen mit einem Gewicht unter 1000 Gramm sind die Augenlider oft noch zusammengewachsen und die Blutgefäße im Auge noch nicht vollständig entwickelt.

Aufgrund des Anstiegs des Sauerstoffgehaltes nach der Geburt wird deren weitere Ausbildung unterbrochen. Dadurch können in den ersten zwei Monaten „wilde Gefäße“ im Auge wuchern, was zu einer Netzhautablösung führen kann. In diesem Fall müssen Augenchirurgen die Netzhaut einer Laserbehandlung unterziehen.

Etwa drei von 100 Kindern haben nach der Geburt ernsthafte Darmerkrankungen, eines stirbt daran. Zwei schwerwiegende Probleme können auftreten. Entweder platzt der Darm an einer kleinen Stelle oder der Darm entzündet sich. Dann greifen Bakterien die Darmwand an und lassen ihn absterben. Kommt es zu solchen schwerwiegenden Komplikationen, muss operiert werden: Kinderchirurgen verlegen dann den Darmausgang zeitweilig auf die Bauchvorderseite. Wird eine Darmentzündung rechtzeitig entdeckt, muss das Frühchen sofort mit Antibiotika behandelt werden.

Die Redaktion des Magazins "Tagesspiegel Kliniken Berlin 2016" hat die Berliner Kliniken, die diese Erkrankung behandeln, verglichen. Dazu wurden die Behandlungszahlen, die Krankenhausempfehlungen der ambulanten Ärzte und die Patientenzufriedenheit in übersichtlichen Tabellen zusammengestellt, um den Patienten die Klinikwahl zu erleichtern. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel Shop.

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