Gesundheit: Filmemacher des Lebens
Wolfgang Baumeister entwickelte ein Mikroskop, mit dem Prozesse in der Zelle sichtbar werden
Wolfgang Baumeister vergleicht die Zelle mit einer Fabrik. In der kleinsten Einheit eines Organismus werde unentwegt produziert, kontrolliert und ausgemustert, sagt der Forscher vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München. Er möchte die Details der organischen Zellfabrik erforschen, die Produktionsabläufe kennen lernen. Für den supergenauen Blick in die winzigen Strukturen hat Baumeister eine spezielle Methode, die Kryo-Elektronentomografie, entwickelt. Dafür erhielt der 59-jährige Biochemiker am gestrigen Dienstag den mit 50 000 Euro dotierten Schering-Preis 2006.
Von der Werkstatt der Zelle sind noch nicht alle organisatorischen Details bekannt. Man kennt die wichtigsten Einheiten, wie Zellkern oder Membran. Man weiß, dass es Kraftwerke, die Mitochondrien, und Ribosomen, die Eiweißfabriken, gibt. Man kennt auch viele Gene, das sind die Bauanleitungen für die Eiweiße (Proteine). Proteine sind besonders große Moleküle, deren Funktion auch von der Art abhängt, wie sie gefaltet sind.
In der Zelle sind auch molekulare Maschinen aktiv. Größer als einzelne Proteine, aber kleiner als Mitochondrien oder Ribosomen. „Wie arbeiten die molekularen Maschinen zusammen?“, fragt Baumeister. Wo wird die Qualität der Produkte kontrolliert? Wo werden fehlerhaft gebaute oder falsch gefaltete Proteine kontrolliert und geschreddert? Wo ist die Mülldeponie?
Um das zu wissen, muss man in die wenige Mikrometer (Millionstel Meter) großen Zellen hineinschauen, muss Strukturen identifizieren, die nur einige Nanometer (Millionstel Millimeter) groß sind. Mit dem Lichtmikroskop ist das nicht mehr zu schaffen. Per Röntgenstrukturanalyse kann man zwar Proteine sichtbar machen. Doch die Zelle stirbt unter dem rigiden Strahlenbeschuss ab. Bei der Elektronenmikroskopie ist diese Gefahr geringer, doch hier werden die organischen Moleküle bei der Aufbereitung mit Chemikalien leicht beschädigt.
Nun lässt sich biologisches Material durch Gefrieren konservieren. Allerdings kristallisiert dabei auch das in der Probe enthaltene Wasser aus. Die Eiskristalle können die empfindlichen Zellstrukturen zerstören. Das wird beim Schockgefrieren vermieden. Bei dieser schonenden Art blitzschnellen Abkühlens hat Wasser keine Zeit auszukristallisieren. „Wir kühlen mit flüssigem Stickstoff oder Helium“, sagt Baumeister. So komme man auf bis zu minus 269 Grad Celsius herunter. Die lebenden Zellen erstarren zu glasartigem Eis, die Natur wird konserviert. „Sogar die Bewegungen der Proteine sind eingefroren,“ erklärt der Leiter der Molekularen Strukturbiologie am Max-Planck-Institut.
Baumeister ist es gelungen, den zweidimensionalen Bildern, die die Elektronenmikroskopie aufnehmen kann, räumliche Tiefe zu verleihen. Zusammen mit seinem Team passte er die Technik der Computertomografie, wie sie für medizinische Untersuchungen verwendet wird, an das Elektronenmikroskop an. Dabei wird eine Zelle aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Der Rechner setzt dann die einzelnen Aufnahmen zu dreidimensionalen Bildern zusammen.
Die Max-Planck-Forscher wurden so zu Filmemachern. Sie können zeigen, wie Moleküle Poren in der Zellkernhülle passieren, die wie turbinenartige Schleusen funktionieren. Dabei helfen blattförmige Fortsätze, die sich hin und her bewegen, um Eiweißmoleküle in den Zellkern hinein oder heraus zu befördern. Ein anderer Film des Martinsrieder Kinos zeigt Bündel elastischer Fasern, mit deren Hilfe sich das Bakterium Spiroplasma melliferum schraubenartig drehend vorwärts bewegt.
Um scharfe Aufnahmen zu erhalten, musste das Problem des Verwackelns beherrscht werden. Bei Computertomografie in der Medizin genügt es, die Patienten zum Stillhalten aufzufordern. Im Labor müssen die zellulären Objekte für jede Aufnahme ein wenig gekippt werden. Mit bloßer Hand ist Verwackeln nicht zu vermeiden. Baumeister hatte die rettende Idee und die richtigen Techniker, die sie umsetzten. „Wir haben eine automatische Kippvorrichtung entwickelt“, sagt der Forscher.
Die Automatik hilft auch dabei, die Probe rasch in verschiedene Winkel weiterzudrehen, bevor sie durch die Strahlen geschädigt wird. Je mehr Blickwinkel möglich sind, aus denen die Schnittbilder zusammengesetzt werden, desto besser ist die Aufnahme. Um die Probe zu schonen, wird sie mit möglichst wenig Elektronen beschossen. Dies verringert die Aussagekraft. Entscheidend ist nun die Software, die die biologischen Strukturen dreidimensional zusammensetzt.
Sein Meisterstück möchte Baumeister dessen Arbeit das Fachjournal „Science“ bereits unter die zehn wichtigsten Ergebnisse des Jahres 2002 eingereiht hat, mit dem Bakterium Thermoplasma acidophilum machen. Dieser urtümliche Einzeller kommt mit 1500 Genen aus. „Von den rund 700 Proteinen, die es zum Leben braucht, wollen wir in den nächsten Jahren 70 Prozent identifizieren“, sagt der Forscher. Obwohl bisher keine praktischen Anwendungen in Sicht sind, erwartet er von seiner Methode einiges. „Die großen Überraschungen werden noch kommen“, prophezeit Baumeister.
Paul Janositz
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