Arztbrief: Epilepsie im Kindesalter
Unser Experte Axel Panzer ist Leiter des Epilepsie-Zentrums am DRK Klinikum Berlin-Westend. Die Klinik ist das von den niedergelassenen Kinderärzten Berlins für die Behandlung einer Epilepsie im Kindes- und Jugendalter am häufigsten empfohlene Krankenhaus (Ärzteumfrage 2015 von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin).
ERKLÄRUNG Das Gehirn ist ein hochkomplexes Organ des Menschen, denn es verarbeitet unter anderem Empfindungen, Erinnerungen und Entscheidungen. Dazu konsumiert es rund um die Uhr allein 20 Prozent des gesamten Sauerstoffverbrauches des menschlichen Organismus. „Das Hirn arbeitet dabei aber sehr ökonomisch, für ein normales Gespräch sind im Prinzip nur rund drei Prozent der Hirnaktivität notwendig“, sagt Axel Panzer, Leiter des Epilepsie-Zentrums am DRK Klinikum Berlin-Westend.
Ganz anders sieht es allerdings bei einem epileptischen Anfall aus, in dem alle Hirnzellen maximal aktiv sind. „In diesem neuronalen Ausnahmezustand kommt es zu synchronen Massenentladungen von Neuronen im Gehirn, die zu plötzlichen unwillkürlichen Verhaltens- oder Befindlichkeitsstörungen führen“, sagt Panzer. Ein Anfall kann Verletzungen durch ungesteuerte Bewegungen oder Bewusstlosigkeit verursachen, die unter bestimmten Bedingungen lebensbedrohlich werden können. Allerdings können nur extrem lang andauernde oder häufige Anfälle das Gehirn direkt schädigen.
Per se kann eine Epilepsie in jedem Alter auftreten - im Erwachsenenalter gehäuft ab dem 75. Lebensjahr (siehe Seite 124), aber auch bereits beim Baby im Mutterbauch.
Dabei sind vor allem Kinder und Jugendliche betroffen. „Statistisch betrachtet entwickeln 0,5 Prozent von ihnen, also umgerechnet 5 von 1000 Kindern, eine Epilepsie“, sagt Panzer. Die Hälfte aller Epilepsien treten vor dem zehnten Lebensjahr und zu zwei Dritteln vor dem 20. Lebensjahr auf.
SYMPTOME Es ist für Eltern nicht immer leicht, Symptome bei ihren Kindern richtig zuzuordnen. Denn aufgerissene Augen, Erstarren, Schwindel oder nächtliche Unruhe lassen sie zunächst nicht automatisch an eine Funktionsstörung des Gehirns denken. Außerdem kann ein epileptischer Anfall in der Ausprägung und Intensität sehr unterschiedlich sein: Während einige Kinder nur wenige Sekunden abwesend sind, leiden andere unter minutenlangen Bewusstseinsstörungen. „Ein sogenannter großer epileptischen Anfall dauert meist mehr als 90 Sekunden und wird begleitet von unkontrollierten Körperbewegungen, Verdrehen der Augen und vermehrtem Speichelfluss“, sagt Kinderneurologe Panzer.
Da die Anfälle bei demselben Patienten oft einem ähnlichen Verlauf folgen, können sie über die Zeit in der Regel von den Betroffenen selbst und von deren Umgebung gut als solche identifiziert werden. Sehr hilfreich zur Diagnosestellung können auch entsprechende Videoaufzeichnungen sein.
URSACHEN Epileptische Anfälle sind Folge einer Störung des Zentralen Nervensystems: Dabei besteht beispielsweise ein Ungleichgewicht zwischen dem erregenden Botenstoff Glutamat und dem wichtigsten hemmenden Nerven-Botenstoff Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Diese Imbalance kann sowohl Neuronen einzelner Hirnrindenareale als auch die Hirnrinde als Ganzes betreffen. „Wir gehen heute von einem multifaktoriellen Geschehen aus, also von mehreren Ursachen, die zusammenwirkend die Erkrankung begünstigen können“, sagt Panzer.
Es gibt Epilepsieformen, die altersgebunden in Erscheinung treten und maßgeblich auf eine genetische Veranlagung zurückzuführen sind. Auf der anderen Seite existieren sogenannte symptomatische Epilepsien: Dazu gehörten epileptische Anfälle infolge von akuten Umwelteinflüssen oder Stoffwechselentgleisungen. „Aber auch Hirntumore, Schädel-Hirn-Traumata oder Gehirnschädigungen durch eine Blutung, Infektion oder Sauerstoffmangel können ursächlich sein.“
DIAGNOSE Ein epileptischer Anfall kann einmalig durch eine vorübergehende und schnell wieder verschwindende Störung des Gehirns ausgelöst werden, dann sprechen Mediziner von einem Gelegenheitsanfall. Gerade bei kleinen Kindern ist der Fieberkrampf ein typisches Beispiel dafür. Außerdem kann ein akuter Krampfanfall entstehen, wenn der Blutzucker rapide abfällt, aber auch bei Vergiftungen oder Infektionen des Gehirns.
Demgegenüber handelt es sich um eine „echte“ Epilepsie, wenn mindestens zwei isolierte epileptische Anfälle auftreten oder aber neben dem Anfall typische elektroenzephalografische (EEG) Befunde erhoben werden können. Allerdings können oft Jahre vergehen, bis die Erkrankung entdeckt wird.
Zur Klärung möglicher Ursachen der Epilepsie misst der Arzt verschiedene Laborwerte aus Blut, Urin und Nervenwasser. „MRT-Aufnahmen des Kopfes werden bei den meisten Epilepsien gleich zu Beginn durchgeführt, um potenzielle Hirnveränderungen ausschließen zu können“, sagt Kinderneurologe Panzer. Darüber hinaus können weitere Auffälligkeiten an anderen Organen wie der Netzhaut im Auge, der Leber oder Haut wichtig sein, um ein zugrunde liegendes Krankheitsbild zu identifizieren. Wichtig sind auch Berichte von Eltern und Lehrern, die über den Ablauf der Anfälle ihrer Kinder berichten können.
THERAPIE Ein epileptischer Anfall ist immer ein medizinischer Notfall. Im Anfall selbst schützt man den Betroffenen am besten dadurch, dass harte Objekte wie Stühle, Tische oder Glas aus dem Umfeld geräumt werden, damit er sich daran nicht verletzen kann.
Oft entsteht der Eindruck, der Betroffene „verschlucke“ seine Zunge, da das Atemgeräusch verschärft ist durch Zusammenpressen der Zähne im Anfall und einen vermehrten Speichelfluss. Keinesfalls sollte man mit den Fingern oder gar Gegenständen versuchen, dann den Kiefer zu öffnen.
Notfallmedikamente zum Beenden des Anfalls werden dann gegeben, wenn dieser zu lange dauert, beispielsweise länger als drei Minuten. „Epileptische Anfälle werden mit krampflösenden Medikamenten, sogenannten Antiepileptika oder Antikonvulsiva, behandelt“, sagt Epilepsie-Experte Panzer. Gelingt es tatsächlich, mit einer mehrjährigen medikamentösen Dauerbehandlung die Anfälle anhaltend auszuschalten, kann der Arzt versuchen, die Dosis der Arzneimittel schrittweise zu verringern und das Medikament schließlich ganz abzusetzen.
Allerdings schlägt die medikamentöse Behandlung, bei der es vor allem darum geht, die epileptischen Anfälle dauerhaft zu verhindern, nicht immer an. Außerdem können auch bei diesen Medikamenten unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Aus diesen Gründen setzen Mediziner auf weitere Therapiemöglichkeiten, zum Beispiel eine spezielle Ernährung: Bei einer solchen sogenannten ketogenen Diät geht es darum, dass der Körper seinen Energiebedarf nicht mehr aus verzehrtem Fett und Traubenzucker deckt, sondern fast nur noch aus Fett. Dazu soll die Ernährung reich an (gesunden) Fetten sein und arm an Kohlenhydraten. Durch den Mangel an von außen zugeführtem Zucker beginnt der Körper, aus den Fetten einen Glucoseersatz zu produzieren, sogenannte Ketonkörper. Wie genau diese Ernährungsform das Auftreten weiterer Anfallsleiden verhindert, ist noch nicht geklärt, aber die Option hat einen festen Platz in der Behandlung und ist bereits in die Therapie-Leitlinien der Gesellschaft für Neuropädiatrie eingeflossen.
Andere Alternativen sind chirurgische Eingriffe: „Dazu zählen Operationen, mit denen man die anfallsauslösenden Areale im Gehirn zu entfernen versucht“, sagt Panzer.
Auch die Implantation eines Hirnschrittmachers kann helfen. „Bei dieser sogenannten Vagusnervstimulation wird ein Gerät ähnlich einem Herzschrittmacher in den vorderen Achselbereich des Patienten implantiert“, sagt der Kinderneurologe. Dieses ist über eine Elektrode mit dem linken Vagusnerv verbunden, einem Gehirnnerven, der die meisten inneren Organe reguliert. Der Nerv wird alle fünf Minuten vom Schrittmacher elektrisch stimuliert und soll somit eine anfallshemmende Wirkung erzielen.
Mit den heute zur Verfügung stehenden Therapiemethoden sind rund zwei von drei Epilepsiepatienten dauerhaft anfallsfrei. „Wichtig im Umgang mit einer Epilepsie sind wie bei vielen anderen Krankheiten Wissen und Gelassenheit“, sagt Kinderarzt Panzer: Eltern, aber auch die betroffenen Kinder selbst müssten dafür gut über das Krankheitsbild aufgeklärt werden. Und die Betroffenen müssten erlernen, eine innerliche Ruhe zu bewahren. Für den Heilungserfolg fundamental sind die Unterstützung der Familie und die Integration der Betroffenen in einen geregelten Kita- und Schulalltag.
Ist Heilung nicht möglich, kann man lernen, mit den Anfällen zu leben und sie zu kontrollieren. Dabei hilft eine Psychotherapie.
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Leonard Hillmann