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Arztbrief: Epilepsie

Unser Experte Martin Holtkamp ist Chefarzt der Abteilung für Epileptologie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Lichtenberg und Medizinischer Direktor des Epilepsie-Zentrums Berlin-Brandenburg. Die Klinik ist das von den niedergelassenen Neurologen Berlins für die Behandlung einer Epilepsie im Erwachsenenalter am häufigsten empfohlene Krankenhaus (Ärzteumfrage 2015 von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin).

ERKLÄRUNG Das Gehirn ist das komplexeste Organ des Menschen: Es empfindet, erinnert und entscheidet, steuert Bewegungen und befähigt zur Sprache. Dafür arbeiten Abermillionen von Nervenzellen zusammen. Normalerweise sind diese elektrisch geladenen Neuronen eng aufeinander abgestimmt, sie entladen sich koordiniert, um Signale weiterzugeben. Manchmal geraten sie jedoch auch in einen Ausnahmezustand, sodass sich ganze Neuronengruppen synchron entladen. „Dann sprechen wir von einem epileptischen Anfall“, sagt Martin Holtkamp, Chefarzt der Abteilung für Epileptologie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge und Medizinischer Direktor des Epilepsie-Zentrums Berlin-Brandenburg. Solch ein Anfall, der auch als „Gewitter im Gehirn“ beschrieben werden könne, führe beispielsweise zu plötzlichen unwillkürlichen Verhaltens- oder Befindensstörungen.

Prinzipiell können epileptische Anfälle bei jedem Menschen auftreten, etwa bei sehr hohem Fieber. Von einer Epilepsie sprechen Ärzte daher erst dann, wenn sich die Anfälle wiederholen. In Berlin gibt es rund 30 000 Menschen mit Epilepsie, darunter 5000 Kinder. Den ersten Anfall erleiden die Betroffenen meist bereits in jungen Jahren (siehe Seite 84) - oder im höheren Alter, jenseits des 60. Lebensjahres. Das hat unterschiedliche Gründe. „Das kindliche Gehirn reagiert noch sehr empfindlich auf Reize“, sagt Holtkamp. Daher neige es eher zu Überreaktionen. Bei älteren Menschen sei das Gehirn dagegen häufig bereits vom Leben gezeichnet, weise durch Schlaganfälle oder Stürze kleine Verletzungen und Narben auf. „Durch diese kann es dann zu den spontanen Fehlentladungen von Nervenzellverbänden kommen.“

Bei einem epileptischen Anfall entladen sich in der Hirnrinde (1) massiv synchron Neuronengruppen. Ist die gesamte Hirnrinde davon betroffen, spricht man von einem generalisierten Anfall, sind es nur einzelne Stellen, von einem Fokal-Anfall.
Bei einem epileptischen Anfall entladen sich in der Hirnrinde (1) massiv synchron Neuronengruppen. Ist die gesamte Hirnrinde davon betroffen, spricht man von einem generalisierten Anfall, sind es nur einzelne Stellen, von einem Fokal-Anfall.
© Fabian Bartel

SYMPTOME Wenn sich im Gehirn ein Neuronen-Gewitter entlädt, bleibt das natürlich nicht ohne Folgen. Wie genau diese aussehen, ist jedoch von Patient zu Patient verschieden. „Epileptische Anfälle gehen bei einem individuellen Patienten häufig von einem bestimmten, klar umrissenen Hirnareal aus“, sagt Holtkamp. „Je nachdem, welches das ist, passieren unterschiedliche Dinge.“ Manche Patienten mit einer solchen fokal genannten Epilepsie litten unter Sprachstörungen, bei anderen zucke und versteife sich ein Arm, wieder andere seien lediglich geistig abwesend. Allerdings kann sich das Gewitter bei einem Anfall auch auf das gesamte Gehirn ausbreiten. „Dann kommt es zu einem sogenannten Grand Mal“, sagt Holtkamp. Dabei wird der gesamte Körper von dem Anfall erfasst, die Betroffenen gehen zuckend und mit versteiften Gliedern zu Boden, ihre Augen sind weit aufgerissen. „Das sieht zwar sehr dramatisch aus, geht aber fast immer von selbst wieder vorbei.“ So dauert ein fokaler Anfall zwischen 40 Sekunden und einer Minute, ein Grand Mal bis zu zwei Minuten. Danach sind die Betroffenen meist sehr benommen, brauchen rund 20 Minuten, um wieder ganz zu sich zu kommen. An den Anfall selbst haben sie hinterher keinerlei Erinnerungen. Nur in extrem seltenen Fällen kommt es zu einem andauernden Anfall, einem sogenannten Status epilepticus. „Dies ist ein Notfall, der sofort behandelt werden muss“, sagt Holtkamp.

Allgemein genüge es jedoch, einen Patienten mit Epilepsie während eines Anfalls vor Verletzungen zu schützen, beispielsweise indem man ihn sanft festhält und seinen Kopf weich bettet. Epilepsie ist zwar eine chronische Krankheit, beeinträchtigt die Lebenserwartung jedoch kaum. „Die Anfälle selbst sind in der Regel nicht tödlich“, sagt Holtkamp. Gefährlich sei jedoch, dass die Anfälle völlig unvorhersehbar auftreten: beim Schwimmen, bei der Arbeit auf einem Gerüst, am Steuer. Deshalb dürfen Menschen mit Epilepsie erst Auto fahren, wenn sie ein Jahr anfallsfrei sind. Auch manche Berufe sind ihnen bis zu fünf Jahre nach dem letzten Anfall versperrt, beispielsweise Busfahrer oder Pilot.

URSACHEN Epileptische Anfälle sind die Folge einer Störung des zentralen Nervensystems. Dabei besteht ein Ungleichgewicht zwischen dem erregenden Botenstoff Glutamat und dem wichtigsten hemmenden Nerven-Botenstoff Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Diese Imbalance kann sich sowohl auf Neuronen einzelner Hirnrindenareale als auch auf die Hirnrinde als Ganzes auswirken.

Ärzte unterscheiden zwischen angeborenen und erworbenen Epilepsien. Bei den angeborenen Epilepsien spielt die genetische Veranlagung eine Rolle. Einer erworbenen Epilepsie gehen häufig Erkrankungen wie Hirntumore, Schädel-Hirn-Traumata, Gehirnschädigungen durch Virusinfektionen oder Stoffwechselerkrankungen voraus. Dafür, dass es dann tatsächlich zum Anfall kommt, gibt es mitunter bestimmte Auslöser (Trigger), die sich von Patient zu Patient unterscheiden können. „Bei einigen Patienten sind es Schlafmangel und Stress, die einen Anfall begünstigen“, sagt Neurologe Holtkamp.

DIAGNOSE Wichtig für die Diagnosestellung einer Epilepsie ist vor allem das Anfallsbild eines Patienten. „Es gilt, sehr genau nachzufragen - auch bei Menschen aus dem Umfeld des Betroffenen“, sagt Holtkamp. Denn da sich die Patienten selbst oft nicht an ihre Anfälle erinnern können, seien Berichte und Beschreibungen von „Augenzeugen“ sehr wichtig.

Um nach Narben, Tumoren oder Verletzungen im Gehirn als Ursache für die Epilepsie zu suchen beziehungsweise diese auszuschließen, wird bei jedem Patienten nach dem ersten Anfall eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns durchgeführt. Mithilfe einer Elektroenzephalografie (EEG), bei der die Hirnströme gemessen werden, lassen sich die krankhaften Entladungen der Neuronen zudem direkt nachweisen. Dies kann auch helfen, die genaue Form der Epilepsie - fokal oder generalisiert - festzustellen.

THERAPIE „Das Ziel der Therapie ist es, Betroffene dauerhaft von den Anfällen zu befreien“, sagt Epileptologe Holtkamp. Dafür stehen den Ärzten hauptsächlich Medikamente zur Verfügung, die Antiepileptika. Diese wirken meist, indem sie die Nervenzellen stabilisieren und so die Schwelle zur Entladung erhöhen. „Bei zwei von drei Patienten reicht ein Medikament aus, um die Anfälle zu unterdrücken“, sagt Holtkamp. Bei manchen Patienten sei es jedoch notwendig, mehrere Mittel miteinander zu kombinieren. In jedem Fall müssten die Antiepileptika individuell abgestimmt werden - auch um Nebenwirkungen wie Konzentrationsstörungen, Müdigkeit oder Schwindel gering zu halten.

Zeigen Medikamente keine Wirkung, ist unter bestimmten Umständen auch eine Operation möglich. Dabei wird das Hirnareal, von dem die Anfälle ausgehen, entfernt. Das geht aber nur, wenn sich dieses Areal auch genau eingrenzen lässt - und nicht in der Nähe von wichtigen Hirnbereichen wie dem Sprachzentrum oder dem für Motorik liegt. Bei Patienten mit einer generalisierten Epilepsie, bei der die Anfälle zeitgleich im gesamten Gehirn entstehen, ist ein derartiger Eingriff überhaupt nicht möglich.

„Die meisten Operationen erfolgen bei einer Epilepsie, deren Herd im Schläfenlappen sitzt“, sagt Holtkamp. „In diesen Fällen liegt die Erfolgsrate auf komplette Anfallsfreiheit bei 70 Prozent.“ Wie bei jeder Operation besteht auch bei Eingriffen am Gehirn die Möglichkeit akuter unerwünschter Komplikationen. Dazu gehören unter anderem Wundinfektionen, Blutungen oder Heilungsstörungen. Zudem können sich nach dem Eingriff langfristig Gedächtnisstörungen zeigen, wenn - wie bei den meisten für die OP infrage kommenden Patienten - der Schläfenlappen operiert wird.

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