Beschneidung: Die nächste Generation retten
Genitalverstümmelung von Mädchen gehört auch in Berliner Kliniken und Arztpraxen zum Alltag. Das St.-Joseph-Krankenhaus startet eine Aufklärungskampagne zur Prävention.
Sie kam unangemeldet in den Kreißsaal des St.-Joseph-Krankenhauses in Tempelhof. Bei der Untersuchung wurde schnell klar: Dies würde keine normale Geburt werden. Statt Schamlippen, Klitoris und Vagina hatte die Frau, die aus einem afrikanischen Land stammte, nur eine winzige Öffnung. Sie war beschnitten, oder wenn man es weniger euphemistisch ausdrückt: Ihre Genitalien waren verstümmelt und zugenäht worden. Oft wird dafür der englische Ausdruck Female Genital Mutilation verwendet, abgekürzt FGM. „Pin hole“ – stecknadelkopfgroßes Loch – nenne man es, wenn bei einer Frau nach der Beschneidung nur noch eine „minimale Öffnung übrig bleibt, durch die gerade mal ein Strohhalm passt“, sagt Verena Schotters, Oberärztin an der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe. Schotters wird von ihren Kollegen immer dann dazu gerufen, wenn eine beschnittene Frau im St. Joseph entbinden will. Sie hat schon in Sierra Leone, Ghana, Eritrea und Äthiopien gearbeitet. Alles Länder, in denen die Genitalverstümmelung normal ist. In manchen Regionen werden dort nahezu 100 Prozent aller Mädchen verstümmelt, die meisten vor dem fünften Geburtstag. Viele sterben daran.
Rund 130 bis 150 Millionen Mädchen und Frauen weltweit sind Opfer dieser gewaltsamen Tradition, die es in fast 30 Ländern gibt, auch in Ägypten, den Vereinigten arabischen Emiraten und Indonesien. Nachdem das Model Waris Dirie 1998 den Bestseller „Wüstenblume“ veröffentlichte, war das Thema zwar eine Weile in aller Munde – geriet dann aber wieder in den Hintergrund. Für viele ist es ein exotisches, weit entferntes Thema.
Doch es ist längst in Berlin angekommen, vor allem im Alltag von Berliner Ärzten. Vier beschnittene Frauen hat Schotters in den letzten drei Jahren im St.-Joseph-Krankenhaus entbunden. Mehr als 25 000 beschnittene Frauen und Mädchen leben in Deutschland – viele davon in Berlin. Die Zahlen kann man nur schätzen. Die meisten Opfer sprechen nicht darüber. Vor allem aber sind geschätzt etwa 6000 Mädchen, die in Deutschland leben, von der Verstümmelung bedroht: die nächste Generation, die Töchter jener beschnittenen Frauen, die in Berliner Krankenhäusern entbinden. „Wir erleben das ganz regelmäßig: Hier geborene Mädchen fliegen in den Schulferien in das Heimatland ihrer Eltern und kommen beschnitten wieder“, sagt Karin Just vom Verein Mama Afrika, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit Alphabetisierungs-, Bildungs- und Aufklärungsprojekten weibliche Genitalverstümmelung vor allem in Westafrika zu beenden.
Das St. Joseph-Krankenhaus hat eine Präventionskampagne ins Leben gerufen
Genau dort will eine Präventionskampagne ansetzen, die Ärztinnen des St. Joseph-Krankenhauses gemeinsam mit dem Verein ins Leben gerufen haben: Sie wollen „für die Unversehrtheit der Mädchen kämpfen.“ Den Anstoß gegeben hat Sarah Lück, Assistenzärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Bei einer Fortbildung stieß sie auf das Thema, das sie nicht mehr losließ. Sie hielt einen Vortrag darüber vor ihren Kollegen auch aus anderen Abteilungen.
Daraufhin beschloss man, dass sich die einzelnen Kliniken des Krankenhauses – die für Geburtshilfe und die für Kinder- und Jugendmedizin, in dieser Beziehung vernetzen sollten: „Unsere Aufgabe als Geburtshelfer ist es, die Beschneidung schon während der Schwangerschaft zu thematisieren und die Kollegen in der Kinderklinik zu informieren“, sagt Gynäkologin Schotters. Die wiederum wollen sich an die weiterbehandelnden Kinderärzte wenden: „Der Weg zur Prävention führt über die niedergelassenen Kinderärzte“, sagt Sarah Lück. „Die müssen darauf gestoßen werden, dass sie als weiße Ärzte die Hürde nehmen müssen, Beschneidungen zu thematisieren.“
Unter dem Motto „Mädchen schützen“ hat das Krankenhaus vor Kurzem vor allem niedergelassene Ärzte, aber auch Sozialarbeiter, Lehrer, Erzieher und Jugendamtsmitarbeiter zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. „Es gab dort etwa die Nachfrage von einem Arzt, ob man ,so etwas melden’ müsse“, erzählt Sarah Lück. Ihm war das Thema gerade in seiner Praxis begegnet.
Viele Frauen wollen nicht über das Thema sprechen, schon gar nicht mit deutschen Ärzten
Auch das Sankt-Gertrauden-Krankenhaus, das Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und das Krankenhaus Waldfriede beteiligten sich an der Aktion, sagt Beatrix Schmidt, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Das Krankenhaus Waldfriede spielt eine besondere Rolle: Dort gibt es das weltweit erste Behandlungszentrum für Frauen mit Genitalverstümmelung, das „Desert Flower Center Waldfriede“. Dort können sich beschnittene Frauen einer Operation unterziehen, die die Beschneidung zwar nicht rückgängig machen, aber doch die Folgen etwas lindern kann.
Das Hauptproblem: Viele Frauen wollen nicht über das Thema sprechen, schon gar nicht mit deutschen Ärzten, die entweder tief betroffen und erschrocken, mit übertrieben angestrengtem Verständnis oder bevormundend auf etwas reagieren, was für sie – wenn auch oft schmerzhafte – Normalität ist. „Das kommt nicht gut an“, sagt Schotters.
Deshalb haben die vor Kurzem verstorbene Gründerin des Vereins Mama Afrika, Hadja Kaba, und ihre Mitstreiterinnen, die ebenfalls aus afrikanischen Ländern stammen, „einen niedrigschwelligen Fragebogen“ entwickelt. Die Patientinnen sind darin nicht gezwungen, ihren Namen anzugeben. „Patientinnen mit FGM sind häufig schwer traumatisiert. Auf dem Formular müssen sie lediglich ankreuzen – so gewinnen wir wichtige medizinische Informationen und können dennoch Grenzen wahren‘‘, sagt Sarah Lück. Wenn Frauen auf dem Fragebogen angeben, dass sie beschnitten sind, wollen die Ärztinnen sie vorsichtig fragen, ob sie zu einem Gespräch mit einer Frau afrikanischer Herkunft von Mama Afrika bereit sind. Das soll dann in den drei Tagen geschehen, die die meisten jungen Mütter nach der Entbindung im Krankenhaus bleiben. So könne man das Thema auf eine ganz andere Weise ansprechen.
„Es geht auch darum, herauszufinden, wie groß der Leidensdruck der jeweiligen Frau ist“, sagt Gynäkologin Schotters. Manchmal gebe es gar keinen – weil sie es einfach nicht anders kenne. „Man kann nicht missionarisch tätig werden, wenn die Frauen kein Interesse haben.“ Schotters sagt, sie bewege sich bei Patientinnen wie der Gebärenden mit dem „Pin hole“ auf einem „schmalen ethischen Grad“: Damit das Kind überhaupt auf die Welt kommen konnte, musste es chirurgisch geöffnet werden. Aber wie sollte sie die Wunde hinterher wieder vernähen? „Sie hat uns glaubhaft versichert, dass sie es unbedingt wieder so haben will wie vorher. Allerdings stand ihr Mann die ganze Zeit daneben.“ Sie habe die Öffnung aber etwas größer gelassen als vorher, damit die Frau besser urinieren und menstruieren kann, sagt Schotters. Die Patientin brachte einen Sohn zur Welt. Das Thema „Beschneidung der nächsten Generation“ musste nicht angesprochen werden.
Unter der E-Mail-Adresse fgm@sjk.de können sich Ärzte, Lehrer, Erzieher und Jugendamtsmitarbeiter, denen das Thema begegnet mit Fragen an Sarah Lück wenden. Weitere Infos: www.mama-afrika.org