Gesundheit: Die Heimatlose, die Heimat verkörpert
Es gibt diese Gestalten in Romanen und Erinnerungen, die niemandem auffallen und ewig nur eine Nebenrolle spielen. Sie bleiben verschwommen, im Nebel, man nimmt sie hin und liest über sie hinweg.
Es gibt diese Gestalten in Romanen und Erinnerungen, die niemandem auffallen und ewig nur eine Nebenrolle spielen. Sie bleiben verschwommen, im Nebel, man nimmt sie hin und liest über sie hinweg. Auch die Literaturwissenschaft kümmert sich nicht um sie - bis sich doch mal eine Wissenschaftlerin, ein Wissenschaftler hinsetzt und merkt: Sie sind interessant! Sie haben etwas zu bedeuten. Und: An ihnen lassen sich weit reichende historische und psychologische Zusammenhänge aufzeigen.
Eine solche Figur ist die Amme oder das Kindermädchen, englisch "nurse". Katie Trumpener, Professorin für deutsche, englische und vergleichende Literatur sowie für Film an der University of Chicago und Gast der American Academy, hat sich von der unscheinbaren, aber nur scheinbar unwichtigen Figur faszinieren lassen und in zahlreichen Texten nach ihr gesucht - mit reichem Ergebnis, wie sie kürzlich an der American Academy vortrug. Die Amme als literarisches Motiv, als Gegenstand von Erinnerungen hat Trumpener zufolge vor allem für Schriftsteller Bedeutung, die ins Exil gehen mussten oder übers Exil schreiben - im 20. Jahrhundert zum Beispiel für Autoren wie Anna Seghers, Judith Kerr und Erich Auerbach.
Für sie verkörpert diese frühe Betreuerin die Heimat, die die Exilierten verloren haben, den Schutz und die Geborgenheit, nach denen sich die entwurzelten Kinder sehnten. Auch ihre Phantasien von einer glücklichen Heimkehr machen sich an dieser Gestalt fest - ein Motiv, das schon in Homers Odyssee anklingt, als der heimkehrende Odysseus, äußerlich völlig verändert und verwahrlost, von seiner Amme Euryclea an einer Narbe am Fuß wiedererkannt wird. Das Motiv zieht sich durch die Literaturgeschichte: "Von Swift bis Puschkin haben Autoren die Amme als eine tröstende Figur im Exil imaginiert", so Trumpener.
In den Wirren des Zweiten Weltkriegs wird das Bedürfnis nach einer solchen Wärme spendenden Gestalt besonders offenkundig. Lisa Tetzners Kinderbuch "Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nr. 67", geschrieben im Schweizer Exil und veröffentlicht zwischen 1932 und 1948, erzählt von einer Gruppe von Nachbarskindern, die die wirtschaftliche Depression und die Herrschaft der Nationalsozialisten miterleben, einige als Mitglieder der Hitlerjugend, andere als Flüchtlinge. Die Flüchtlingskinder treffen in Frankreich ihr ehemaliges russisches Kindermädchen Nanna wieder, die ihnen mit ihrer spontanen Hilfe ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Bei ihr erleben sie eine Solidarität, die - und das ist das Entscheidende - nicht an Blutsbande geknüpft ist, sondern an physische Nähe und geteilte Erfahrung. "Die Amme begründet für die Emigrierten sowohl ein Gefühl von Heimat als auch die Idee, dass Heimat transportiert, rekonstruiert, improvisiert werden kann; sie gibt den entwurzelten Kindern ein neues Selbstbewusstsein und befähigt sie, sich gegenseitig zu helfen", analysiert Trumpener. In gewisser Weise werden die Kinder selbst "zu Kindermädchen füreinander", um sich zu retten.
In ihrem autobiographischen Kinderroman "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", erinnert sich auch Judith Kerr an ihr Kindermädchen Heimpi, das die Familie bei der Flucht in Deutschland zurücklässt. Auch Kerr verbindet Heimpi mit einer urtümlichen Sicherheit, in der für alle Bedürfnisse gesorgt ist - eine Funktion, die die leibliche Mutter erst mühsam erlernen muss.
An dieser Stelle zeigt sich für Katie Trumpener aber auch die Gebrochenheit der Figur: Denn auch wenn die exilierten Autoren die Amme als die Wärme Spendende, Heimat-Gebende, Einheimische, Stabile, Verwurzelte imaginieren, so waren doch die realen Frauen, die den Beruf des Kindermädchens ausübten, oft selbst "Exilierte". Historisch gesehen kamen sie oft vom Land, das sie aus finanziellen Nöten hatten verlassen müssen, und einige ließen dort eigene Kinder zurück. In Luigi Pirandellos Geschichte "La balia" etwa kommt eine sizilianische Amme in einen römischen Haushalt, und während sie sich den Kindern ihrer Herrschaft widmet, stirbt ihr eigenes Baby in Sizilien. Und auch die Kindermädchen der deutschen Exilierten mussten, in Deutschland zurückgelassen, Repressalien wegen der engen Verbindung zu ihrer ehemaligen, nun politisch missliebigen Herrschaft fürchten. Die "Heimat", wenn sie sie denn hatten, wurde auch für die Kindermädchen fremd.
Die reale Lebenssituation ihrer Kindermädchen interessierte die bürgerlichen Autoren aber wenig, hat Trumpener festgestellt: Auch in den Erinnerungen von Judith Kerr oder Anna Seghers spielt keine Rolle, welche Nöte und Erfahrungen von Exil ihre Kindermädchen möglicherweise durchmachten. Die Frauen sind für sie vor allem insofern bedeutsam, als sich mit ihnen regressive Phantasien und die Erinnerung an eine heile Kinderwelt verbinden.
Aber ging es nicht schon Euryclea so? "Odysseus", so Trumpener, "kommt in dem Moment wirklich nach Hause, in dem Euryclea ihn an seiner Narbe erkennt; ihre Kenntnis von seiner Vergangenheit bindet Vergangenheit und Gegenwart zusammen und heilt die Wunden des Exils. Doch Euryclea selbst verharrt für immer im Exil - ihre Vergangenheit bleibt unbekannt, ihre Geschichte unerzählt, ihre Heimat verloren."
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