Arztbrief: Diabetes mellitus Typ 1
Unsere Expertin Silvia Müther ist Leiterin des Diabeteszentrums für Kinder und Jugendliche am DRK Klinikum Berlin-Westend. Die Klinik ist das von den niedergelassenen Kinderärzten Berlins für die Behandlung eines Diabetes mellitus Typ 1 am häufigsten empfohlene Krankenhaus (Ärzteumfrage 2015 von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin).
ERKLÄRUNG Die Bauchspeicheldrüse ist eines unserer wichtigsten Verdauungsorgane: Sie produziert täglich etwa anderthalb Liter an Enzymen, die an der Verdauung von Nahrungsmitteln beteiligt sind. Darüber hinaus wird im Pankreas, wie Mediziner die Bauchspeicheldrüse nennen, aber auch das lebensnotwendige Insulin hergestellt. Dieses Hormon reguliert den Blutzuckergehalt des Körpers. „Das Insulin sorgt dafür, dass Traubenzucker in die Körperzellen gelangt, wo er zur Energiegewinnung benötigt wird“, sagt Silvia Müther, Leiterin des Diabeteszentrums für Kinder und Jugendliche an den DRK Kliniken Berlin-Westend. „Ohne diesen Transport steigt der Blutzuckerspiegel sehr hoch an, der Körper kann ihn aber nicht verwerten.“ Er „hungere“ sozusagen trotz Überflusses und könne lebensnotwendige Stoffwechselvorgänge nicht mehr aufrechterhalten.
Mediziner kennen heute verschiedene Formen der Zuckerkrankheit. Dabei muss Diabetes mellitus Typ 1 streng von dem etwa zehnmal häufigeren, oft mit Übergewicht verbundenen und bei uns im Kindesalter sehr seltenen Typ-2-Diabetes abgegrenzt werden. Diabetes mellitus Typ 1 ist die häufigste Stoffwechselerkrankung bei Kindern, an der ungefähr eines von 600 unter 18 Jahren leidet. Die Krankheit kann in jedem Lebensalter auftreten, also auch schon Kleinkinder betreffen. „Rund 30 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland haben einen Diabetes mellitus Typ 1, in Berlin sind es etwa 1000“, sagt Diabetologin Müther. Statistisch betrachtet erkranken in Deutschland jeden Tag etwa neun Kinder oder Jugendliche.
SYMPTOME „Die eigentlich sehr typischen Symptome von starkem Durst, vermehrtem Wasserlassen, Gewichtsabnahme und zunehmender Schwäche werden häufig nicht als Anzeichen einer Diabeteserkrankung erkannt“, sagt Expertin Müther, „wohl auch, weil viele immer noch denken, der Diabetes sei eine Erkrankung, die nur ältere Menschen betrifft.“ Und wenn die Diabetologin von häufigem Wasserlassen und starkem Durst spricht, dann sind damit im Schnitt mehrere Liter Wasser am Tag gemeint! Außerdem neigen viele Jugendliche dazu, nicht gerne über Krankheitssymptome zu sprechen, und verheimlichen sie daher Freunden und Eltern oft über längere Zeit.
Eher unspezifische Symptome - also wenn sich das Kind oft schwach und schläfrig fühlt, gereizt und launenhaft ist oder in der Nacht wieder einnässt - werden häufig von den Erwachsenen auf seelische oder schulische Belastungen zurückgeführt. Deshalb kommen die Kinder nicht selten erst zum Arzt oder in die Klinik, wenn der Insulinmangel sie schon schwer krank gemacht hat: Bis dahin haben sie oftmals viel Wasser verloren, sind ausgetrocknet und ihr Stoffwechsel ist entgleist, sodass auch ihr Bewusstsein eingetrübt sein kann. „Zu einer starken Stoffwechselentgleisung gehört auch starkes Erbrechen ohne Durchfall, das von Patienten und Eltern oft als Ausdruck eines Magen-Darm-Infekts oder einer Lebensmittelvergiftung fehlgedeutet wird“, sagt Müther.
URSACHEN „Beim Diabetes mellitus Typ 1 handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der der Körper seine eigenen insulinproduzierenden Zellen im Pankreas zerstört.“ Die verantwortlichen Zellen im Gewebe der Bauchspeicheldrüse werden also durch Reaktionen des eigenen Immunsystems bekämpft. Warum es zu dieser immunologischen Fehlsteuerung kommt, ist bisher noch nicht endgültig geklärt. Experten gehen von einer erblichen Veranlagung aus, die allerdings allein nicht ausreiche, um die Erkrankung ausbrechen zu lassen - immerhin kämen die meisten betroffenen Kinder aus Familien, in denen bisher noch kein Typ-1-Diabetes aufgetreten ist. Also müssen noch weitere Faktoren eine Rolle spielen, beispielsweise bestimmte Virusinfektionen - diskutiert werden Magen-Darm-Infektionen auslösende Enteroviren - oder auch die sogenannte Hygienehypothese: Denn die Tatsache, dass Typ-1-Diabetes in Europa und den USA pro Jahr um rund vier Prozent häufiger wird und zunehmend kleinere Kinder betrifft, könnte auch damit zusammenhängen, dass wir alle immer „sauberer“ leben: „Dadurch sind bestimmte Infektionen wie Wurmerkrankungen, die früher bei engerem Zusammenleben mit Tieren häufig waren, hierzulande sehr viel seltener geworden“, sagt Kinderärztin Müther. „Man könnte also sagen, dass das Immunsystem, welches nicht ausreichend von 'außen' beschäftigt wird, sich nach 'innen' in den Körper selbst wendet.“ Dafür spreche, dass auch andere Autoimmunerkrankungen, aber auch Allergien insgesamt deutlich häufiger werden. Wie sich die Kinder dabei ernähren oder mit welchen psychischen Belastungen sie zu kämpfen haben, scheint als auslösende Ursachen eines Diabetes mellitus Typ 1 von keiner besonderen Bedeutung zu sein.
DIAGNOSE „Die Diagnostik der Zuckerkrankheit ist verhältnismäßig einfach“, sagt Silvia Müther. Wenn der Arzt die typischen Symptome erfragt oder erkannt hat, wird der Urin untersucht, der in solchen Fällen Zucker enthält, und der Blutzucker gemessen. Bei auffälligen Werten werden die Kinder dann sofort in eine auf Diabetes spezialisierte Kinderklinik eingewiesen. Die Diagnose wird noch mithilfe des Langzeitblutzuckers, der Auskunft über die Blutzuckerwerte der letzten sechs bis acht Wochen gibt, ergänzt.
THERAPIE Zur Behandlung eines Diabetes mellitus Typ 1 zählen Blutzuckerkontrollen und Insulingaben, die von den Patienten oder deren Eltern selbst durchgeführt werden. Dafür ist zunächst eine intensive Schulung nötig: „Sie werden nach Diagnosestellung dazu etwa zehn bis 14 Tage stationär und danach in regelmäßigen Abständen in einem speziellen Diabeteszentrum betreut“, sagt Kinderdiabetologin Müther.
Für eine auf Dauer erfolgreiche Therapie müssen auch die Angehörigen und engen Freunde mit einbezogen werden, um zu verstehen, was es bedeutet, mit einem Diabetes zu leben. Dazu gehört zum Beispiel auch die Einsicht, dass der kurze Nadelstich zur Blutzuckermessung kaum schmerzhaft ist oder das Insulin immer gespritzt werden muss und nicht etwa als Tablette geschluckt werden kann. „Auch die meisten Kleinkinder haben keine Probleme damit, sich selbst den Blutzucker zu messen, was die Eltern zu Beginn gar nicht glauben können.“
Die Insulingaben erfolgen entweder durch mehrfach tägliche Spritzen oder durch eine kontinuierliche Zufuhr mit einer Insulinpumpe, die am Körper getragen wird und dessen Katheter das Insulin in die Unterhaut transportiert. Der Katheter muss dann nur alle zwei bis drei Tage gewechselt werden. „Die Insulinpumpentherapie wird heute routinemäßig bei Kleinkindern, aber auch bei Jugendlichen mit stark wechselnden Tagesabläufen eingesetzt und erleichtert vielen Patienten die Behandlung deutlich“, sagt Müther. Die notwendige Insulindosis ergibt sich dabei aus dem aktuellen Blutzuckerspiegel, der Menge der Mahlzeiten und den Aktivitäten des Patienten im Alltag.
Ziel der Therapie ist es, dass das Kind normal aufwachsen kann und dass durch eine gute Stoffwechseleinstellung mögliche Langzeitfolgen wie Schädigungen an Augen, Nieren und Nerven vermieden werden. „Aber diese im Einzelfall durchaus schweren Schädigungen sind durch moderne Therapie- und Betreuungsmöglichkeiten heute glücklicherweise sehr selten geworden“, sagt Müther.
AUSBLICK Diabetes mellitus Typ 1 ist eine chronische Krankheit und begleitet die Betroffenen ihr Leben lang. Die moderne Medizin versucht intensiv, neue Möglichkeiten zu finden, um die im Alltag doch sehr belastende Therapie zu vereinfachen. „Die seit vielen Jahren in Ausnahmefällen praktizierte Pankreastransplantation ist für Kinder keine Option“, sagt Diabetologin Müther. Denn das operative Risiko sei viel zu groß für sie, außerdem müsse nach einem erfolgten Eingriff das Immunsystem lebenslang unterdrückt werden, um eine Abstoßung zu vermeiden. „Stattdessen gehen neuere Forschungsaktivitäten in Richtung einer künstlichen Bauchspeicheldrüse, in der die Insulingabe über eine Pumpe selbstständig über eine kontinuierliche Messung des Zuckerspiegels gesteuert wird.“ Ein weiterer Ansatz sei die Entwicklung eines „Bioreaktors“, in dem insulinproduzierende Zellen in einer Art Kapsel so in den Körper eingebracht werden, dass sie von ihm nicht als Fremdgewebe erkannt und somit auch nicht abgestoßen werden. „Obwohl diese Entwicklungen sehr intensiv betrieben werden und rasche Fortschritte erzielen, wird es aber sicher noch einige Jahre dauern, bis solche Behandlungsmethoden die heute übliche Therapie ersetzen können.“
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Leonard Hillmann