Gesundheit: Das erste Gentherapie-Opfer hätte wahrscheinlich vermieden werden können (Kommentar)
Als sich Jesse Gelsinger in die Uniklinik in Philadelphia begab, fühlte er sich pudelwohl. Der 18-Jährige aus Arizona hatte sich in dem Supermarkt, in dem er arbeitete, unbezahlten Urlaub genommen, um freiwillig an einer Studie des berühmten Gentherapeuten James Wilson teilzunehmen.
Als sich Jesse Gelsinger in die Uniklinik in Philadelphia begab, fühlte er sich pudelwohl. Der 18-Jährige aus Arizona hatte sich in dem Supermarkt, in dem er arbeitete, unbezahlten Urlaub genommen, um freiwillig an einer Studie des berühmten Gentherapeuten James Wilson teilzunehmen. Er wusste, dass seine seltene Erbkrankheit, die er mit Diät gut unter Kontrolle hatte, durch das Experiment nicht therapiert werden sollte. Aber durch seine Mithilfe würde man in naher Zukunft den Babys helfen können, die an einer schwereren Form des selben Leidens qualvoll sterben müssen.
Am 17. September, vier Tage nachdem ihm einige Billionen gentechnisch veränderter Viren in die Leber infundiert wurden, lag er selbst im Sterben. Durch eine unkontrollierbare Immunreaktion erstarrte sein Blut zu Gelee und verstopfte die Gefäße. Kurz darauf versagten Leber, Nieren, Lunge und Gehirn. Die seltene Reaktion war den Wissenschaftlern nicht unbekannt, wie sich vergangene Woche bei der Vorlage des offiziellen Untersuchungsberichtes herausstellte: In Versuchen mit einem ähnlichen Virus waren Affen auf genau die gleiche Weise zugrunde gegangen.
Jesse Gelsinger wusste davon nichts, da die Gentherapeuten den entsprechenden Hinweis aus der Einverständniserklärung gestrichen hatten. Er war für die Studie besonders interessant, weil er an einer milden Form des erblichen Leberschadens Ornithin-Transcarbamylase-Defizienz (OTC-Defizienz) litt. Bei schwer betroffenen Neugeborenen führt der Stoffwechseldefekt durch Anhäufung von giftigem Ammoniak zum Tode. Die Wissenschaftler wollten mit dem Experiment ein Adenovirus testen, in das sie ein intaktes OTC-Gen eingesetzt hatten, um damit vielleicht einmal den tödlichen Erbfehler korrigieren zu können. Da bekannt war, dass Adenoviren vehemente Immunreaktionen und Leberentzündungen auslösen können, sollte an Gelsinger untersucht werden, wie eine geschwächte Leber mit der Virusattacke fertig wird.
Wie sich jetzt herausstellte, lagen seine Leberwerte bereits vor Beginn des Experiments außerhalb des für die Studie zugelassenen Bereiches. Auch hatten zuvor zwei andere Probanden auf wesentlich geringere Virusmengen mit schweren Leberentzündungen reagiert. Bei vorschriftsmäßiger Meldung an die Aufsichtsbehörde FDA wäre die Studie, die von Anfang an ethisch umstritten war, wahrscheinlich abgebrochen worden. Dies ist jedoch nicht geschehen.
Durch den ersten Todesfall der Gentherapie ist auch die staatliche Überwachung in die Kritik geraten. Während früher das nationale Gesundheitsinstitut (NIH) zuständig war, das alle gemeldeten Komplikationen sofort veröffentlicht, wurden auf Druck der Biotech-Industrie die Kompetenzen zunehmend zur Arzneimittelaufsicht FDA verlagert - diese behandelt Nebenwirkungen bis zur Zulassung als Betriebsgeheimnisse des Herstellers. So wurde erst im November durch Recherchen der Washington Post bekannt, dass es bereits früher sechs Tote bei Gen-Experimenten gegeben hat. Die beteiligten Firmen hatten nicht an das NIH gemeldet, da sie keinen "ursächlichen Zusammenhang" mit der Gentherapie sahen. Dieser wird aber oft erst durch Veröffentlichung von Zwischenfällen bei ähnlichen Studien deutlich: Erst nach dem Todesfall von Philadelphia gab der Pharmahersteller Schering-Plough gravierende Nebenwirkungen bei einem früheren Adenovirus-Experiment bekannt.
Die Gentherapie, die trotz Versuchen an mehr als 3000 Patienten seit 1990 keine überzeugenden Heilungserfolge vorzuweisen hat, ist zunehmend unter Druck geraten. So wäre der äußerst seltene OTC-Defekt, der nur einmal pro 40 000 Geburten auftritt, den enormen Forschungsaufwand wohl kaum wert. Er gilt aber als ideales Beispiel, um zu beweisen, dass das Prinzip der Gentherapie grundsätzlich funktionieren kann. Dass dafür ausgerechnet ein beinahe Gesunder sterben musste, wird die Kritiker bestärken. Doch "um oben zu bleiben", so der Leiter des missglückten Philadelphia-Experiments, "muss man an der vordersten Front mitmachen und Risiken eingehen".Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Alexander S. Kekulé
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